Von Adonis hat sich im modernen Bewusstsein kaum mehr als sein Name erhalten. Wir nennen einen schönen Mann heute manchmal noch einen Adonis. Und schön soll Adonis auch gewesen sein. So schön, dass er selbst der Liebesgöttin Aphrodite gefiel. Aber in der Antike ging es bei Adonis um mehr als nur Schönheit.
Geboren von einem Baum
Wer Danaë, die von einem goldenen Regen schwanger und später Mutter des Perseus wurde, schon kurios fand, ist auch bei Adonis wieder an der richtigen Adresse. Denn Adonis wurde von einem Baum geboren. Als der Baum schwanger wurde, war er allerdings noch kein Baum, sondern eine junge Frau namens Myrrha. Sie ist die Mutter des Adonis. 1
Adonis’ Vater ist aber gleichzeitig auch Myrrhas Vater. Es geht hier also um eine Inzest-Geschichte: Myrrha bekommt ein Kind von ihrem eigenen Vater, weil sie ihn überlistet hat, mit ihr zu schlafen. 2 Als Myrrhas Vater herausbekommt, dass er der Vater des Kindes ist und was Myrrha getan hat, will er sie töten – schwanger oder nicht, scheint ihm dabei relativ egal zu sein. 3
Myrrha flieht also vor ihrem eigenen Vater und sie läuft weit, bis nach Arabien an den Rand der Wüste. Irgendwann kann die schwangere Frau nicht mehr laufen und die Götter, die Myrrhas Täuschung gegenüber ihrem Vater natürlich auch nicht gutheißen, haben trotzdem ein Einsehen und verwandeln sie in einen Baum, nämlich in die Myrrhe. Ihre Tränen sollen das wertvolle Myrrhenharz sein. 4 Und so kommt es, dass Adonis ein paar Monate später geboren wird, weil die Rinde des schwangeren Myrrhe-Baumes aufplatzt. 5 An Myrrhengewächsen ist es tatsächlich sehr häufig zu sehen, dass die äußerste Borkenschicht rissig wird und abplatzt.
Adonis und Aphrodite
Adonis, Myrrhas Baby, wird von Nymphen gefunden und aufgezogen. 6 Die Nymphen bemerken auch als erste, dass Adonis besonders schön ist und später entgeht auch Aphrodite, der Liebesgöttin selbst, nicht, dass Adonis zu einem besonders hübschen jungen Mann geworden ist. Sie trifft ihn zufällig in einem hellen Waldstück, als Adonis gerade auf der Jagd ist, und verliebt sich sofort in ihn. 7
Das ist etwas problematisch, weil Aphrodite natürlich verheiratet ist. Aber auch Aphrodite ist – wie viele andere Gottheiten der Antike – nicht gerade für ihre eheliche Treue bekannt. Sie ist von Adonis’ Schönheit so sehr beeindruckt, dass sie sich auf eine Affäre mit ihm einlässt. Das Ganze geht auch eine Weile gut. Adonis und Aphrodite streifen zusammen durch die Wälder und jagen kleine Tiere, wie z. B. Hasen. Adonis hat Spaß an der Jagd und ist ein sehr guter Jäger. Trotzdem warnt Aphrodite ihn mehrmals davor, dass er lieber bei Hasen und Enten und dergleichen bleiben soll und keine gefährlichen Tiere mehr jagen soll. Denn Aphrodite hat Angst um ihn, wenn er sich auf die Jagd macht, um Bären, Wildschweine oder Berglöwen zu erlegen, die sehr gefährlich werden können. Adonis belächelt das natürlich nur und hält sich für absolut Manns genug auch solche Tiere töten zu können. 8
Irgendwann muss Aphrodite zu ihren verschiedenen Kultstätten fliegen. Sie verlässt Adonis also ganz kurz. 9 In der Zeit kommt es natürlich wie es kommen muss: Auf einmal taucht ein riesiger Eber vor Adonis auf und bedroht ihn. Es gibt unterschiedliche Versionen der Geschichte, wo dieser Eber herkommt. Bei Ovid ist es wirklich einfach nur ein Wildschwein, das gerade zufällig im Wald war, 10 Apollodor berichtet, dass es sich um den Kriegsgott Ares handelt, der sich in einen Eber verwandelt hat, um Adonis zu töten. 11
Ares Motiv ist dabei Eifersucht. Wie schon erwähnt, war Aphrodite verheiratet – zwar nicht mit Ares, sondern mit dem Gott Hephaistos, aber Ares war so eine Art Daueraffäre der Aphrodite. Und Ares hat überhaupt kein Interesse daran, Aphrodite mit Adonis zu teilen. Er verwandelt sich also in ein gefährliches, riesiges Wildschwein und geht auf Adonis los.
Adonis glaubt fatalerweise, dass er gegen das Monstrum eine Chance hätte, greift zu seinen Waffen und stellt sich dem Eber. 12 Wer schon mal einen ausgewachsenen Keiler gesehen hat, weiß, dass das keine gute Idee ist – zumal wenn dieser Keiler vor Wut schnaubt und mit den Hufen über die Erde kratzt. Weglaufen wäre klüger gewesen, aber das sieht Adonis leider zu spät ein. 13 Der Eber verwundet Adonis sehr schwer, macht sich dann aber erst einmal davon.
Adonis in der Unterwelt
Zeitgleich befällt Aphrodite die ungute Ahnung, dass mit Adonis irgendetwas passiert ist und sie kehrt zurück dorthin, wo die beiden sich zuvor getrennt hatten. Sie findet den schwer verletzten Adonis dort, kann aber nichts mehr tun, so dass Adonis schließlich in ihren Armen verblutet. 14 Aus dem roten Blut des Adonis soll das Adonisröschen entstanden sein. 15
Adonis’ irdisches Leben ist also erst einmal vorbei. Aphrodite will das zwar nicht akzeptieren, aber Adonis muss zunächst in die Unterwelt. Dort trifft er auf Persephone, die Frau des Totengottes Hades und die Königin der Unterwelt. Auch Persephone entgeht nicht, dass Adonis sehr schön ist und auch sie verliebt sich in ihn.
Währenddessen versucht Aphrodite bei Zeus zu erreichen, dass Adonis wieder zurück in die Welt der Lebenden darf, weil er zu früh gestorben ist. Auf der anderen Seite ist Adonis aber gerade bei Persephone, die ihn auch auf gar keinen Fall wieder gehen lassen will. Letzten Endes muss Zeus den Streit der beiden Göttinnen schlichten: Er beschließt, dass Adonis vier Monate des Jahres mit Aphrodite in der oberen Welt und vier Monate mit Persephone in der Unterwelt verbringen soll. Über das letzte Drittel darf Adonis selbst entscheiden. Das ist immerhin mehr Mitspracherecht als die meisten anderen Sterblichen in antiken Götterurteilen erhalten. Mit dem Kompromiss können soweit alle leben. Adonis wird also nun zu einem Menschen, der immer wieder stirbt und aufersteht. 11
Von Phönizien nach Griechenland
Beim Adonis-Mythos handelt es sich um keine genuin griechische oder römische Sage. Denn die Geschichte stammt vermutlich aus Phönizien. Dort ist Adonis ein Vegetationsgott, der dafür sorgt, dass die Pflanzen jedes Jahr wieder wachsen. Die Geschichte von Tod und Auferstehung ist an der Stelle also auch metaphorisch zu verstehen: Wenn Adonis im Winter stirbt, sterben auch die Pflanzen. Wenn er im Frühjahr zurückkehrt, beginnt das Pflanzenwachstum von Neuem.
In Phönizien gab es auch einen Adonis-Kult. Dort hat man kleine Blumentöpfe, die sogenannten Adonis-Gärten, mit speziell behandelten Samen bepflanzt und gut bewässert in die Sonne gestellt. Dadurch konnten die Samen besonders schnell keimen und in die Höhe schießen. Es wirkte wie ein Wunder, dass mehr oder weniger aus dem Nichts in so kurzer Zeit Pflanzen entstehen konnten. Diese Pflanzen hatten allerdings auch keine Wurzeln, waren also nicht besonders langlebig. Nach circa einer Woche waren sie bereits wieder abgestorben.
Diesen Kult hat man auch in Griechenland übernommen. Dort feierte man die Adonien im Sommer, wenn es besonders heiß war und die Adonisgärten besonders gut gedeihen konnten. 17 Es handelte sich aber mehr um private Feiern zu Ehren des Adonis als um offizielle Kulte. Ausgerichtet wurden diese Feste von Frauen und dort allen voran von Prostituierten.
Adonis und die Prostituierten
Auch das ergibt Sinn, wenn man sich die Sage genauer anschaut. Denn es geht zwar um Tod und Auferstehung und um Vegetation, es geht aber nie um Fruchtbarkeit. Es geht sogar ziemlich genau um das Gegenteil. Adonis fängt erst eine Affäre mit Aphrodite und später einen kurzen Flirt mit Persephone an. Beide Göttinnen sind verheiratet und hätten mit Sicherheit kein Interesse daran gehabt von irgendeinem One-Night-Stand schwanger zu werden. Um Sex aus Gründen der Fruchtbarkeit geht es hier also absolut nicht. Es geht hier nur um Lust.
Damit kennen sich Prostituierte natürlich ziemlich gut aus. Auch in einer Beziehung oder Ehe sollte Sex natürlich Spaß machen. Das hat man in der Antike auch schon so gesehen, aber es war ein Ideal. Denn in der Realität heiratete man aus praktischen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen und nicht aus Liebe. Frauen hatten es mit solchen Ehen natürlich besonders schwer, weil sie von ihren Männern abhängig waren. Männer hatten, wenn es zu Hause nicht so lief, etwas mehr Freiräume – und einer davon war es eben zu Prostituierten zu gehen.
Im Adonis-Mythos geht es also um Unfruchtbarkeit. Hierbei ist ausschlaggebend, dass Adonis sehr jung und vor allem kinderlos stirbt. Auch dabei ist es wichtig, sich die antike Sichtweise noch einmal klar zu machen: Keine Kinder zu haben, war in der Antike ein absoluter Makel. Sich bewusst dafür zu entscheiden, keine Kinder zu bekommen, stand in der Antike weder Männern noch Frauen offen. Die einzigen, die sich natürlich wünschen, kinderlos zu bleiben, sind Prostituierte. Denn für sie bedeutete eine Schwangerschaft meistens den Ruin, da es weder wirklich wirksame Verhütungsmittel noch Vaterschaftstests noch Unterhaltsklagen gab.
Adonis ist ein junger Mann, der in der Blüte seines Lebens, aber ohne Kinder stirbt. Er hat sich mit gleich zwei Göttinnen eingelassen, er war aber nie verheiratet. Er blüht also nur kurz auf und stirbt sofort danach. Dieses Prinzip sollen auch die Adonis-Gärten veranschaulichen, in denen die Pflanzen auch in sehr kurzer Zeit schnell wachsen und nach ebenso kurzer Zeit sterben, ohne Früchte getragen zu haben. Und auch als Schutzgott der Prostituierten erfüllt Adonis seine Aufgabe gut: Denn auch dort geht es um Leidenschaft und heiße Nächte, aber bitte ebenfalls unfruchtbar und ohne Schwangerschaften.
Ein Kompliment?
Wir kennen Adonis heute in erster Linie für seine Schönheit. Es gibt sogar eine Wahrnehmungsstörung des eigenen Körpers, die nach ihm benannt ist: Den Adonis-Komplex, bei dem Männer glauben, ihr Körper sei nicht schön, d. h. in diesem Falle nicht muskulös, genug.
Wie wir aber gesehen haben, geht es im Adonis-Mythos um sehr viel mehr. Es geht um einen jungen Mann, der sich und seine vermeintliche „Männlichkeit“ komplett überschätzt und daran stirbt, der von zwei Göttinnen wieder ins Leben gerufen wird. Es geht um die Erklärung, warum im Winter keine Pflanzen wachsen und um einen antiken Kult, den Prostituierte zelebriert haben, über den man aber leider gar nicht so viel weiß. Ob „Adonis“ also wirklich ein Kompliment ist, kann jede*r gerne für sich selbst beantworten.
- Ovid, Metamorphosen, X 505 – 507 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 450 – 465 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 475 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 476 – 502 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 503 – 513 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 514 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 529 – 536 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 537 – 559 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 708 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 710 ↩
- Bibliotheke des Apollodor, 3.14.4 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 711 – 712 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 714 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 720 – 724 ↩
- Ovid, Metamorphosen, X 734 – 739 ↩
- Bibliotheke des Apollodor, 3.14.4 ↩
- Aristophanes, Lysistrata 389 – 398 ↩
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