Medusa – Das Scheusal mit den Schlangen­haaren

Muss man Medusa besonders vorstellen? Es handelt sich schließlich um eine der bekanntesten Figuren aus der antiken Mythologie. Es ist ja auch eine ziemlich einprägsame Gestalt mit den Schlangenhaaren und der hässlichen Fratze, die alle sofort erstarren lässt, die sie anschauen. Über mangelnde Nachwirkung kann sich die Dame nicht beklagen. Und auch nicht darüber, dass sie die Nachwelt zu wenig inspiriert hätte, sei es in Filmen, Kunst, Literatur – aber auch, was die Deutung ihrer Geschichte anbelangt. 

„Schön“ ist was Anderes

Eine der bekanntesten Darstellungen des Hauptes der Medusa stammt von Caravaggio aus dem späten 16. Jhd. (gemeinfrei).

Aber wir fangen natürlich erst mal vorne an. Was ihr Aussehen angeht, sind sich die antiken Quellen weitgehend einig. Und interessanterweise gehen die alten Schilderungen sogar teilweise noch an Scheußlichkeit weit über das hinaus, was in modernen Filmen zu sehen ist.

In den antiken Quellen1 hat Medusa auf jeden Fall Schlangenhaare, was eigentlich ein etwas schiefer  Ausdruck ist, denn ihre Haare sahen nicht etwa aus wie Schlangen, sondern es handelte sich dabei um lebendige Schlangen, die aus ihrem Kopf und ihren Schultern wuchsen und sich züngelnd und zischelnd um ihr Gesicht wanden. Die Schlangenhaare sind ikonisch geworden, denn alle kennen sie. Dazu kommen noch die glühenden Augen und ein weit aufgesperrter Mund, die auch den meisten von uns aus diversen Darstellungen geläufig sein dürften. 

Die Antike kennt als besondere Features außerdem noch eine auffallend platte Nase und eine heraushängende Zunge. Was aber kaum jemand auf dem Schirm hat, sind die gewaltigen Schweinezähne, die links und rechts aus ihrem Maul ragten, so dass man sich Medusa auch ein wenig wie ein Wildschwein vorzustellen hat. 

Alles in allem handelte es sich also um eine ziemlich monströse Erscheinung, die noch durch einen Schuppenpanzer, einen schwarzen Körper sowie ein paar Flügel auf dem Rücken abgerundet wurde. Man könnte auch sagen: Medusa ist nicht gerade eine Figur aus der griechischen Mythologie, der man nachts hinter dem Hauptbahnhof begegnen möchte. Kein Wunder, dass der Mythos uns daher auch gleich die Vorstellung mitliefert, dass jede Person, die das Haupt der Medusa erblickte, vor Schreck sofort zu Stein erstarrte. Das ist übrigens ein interessantes Detail: Nicht ihr Blick lässt die Leute erstarren, sondern ihr Anblick. Sie muss also wirklich extrem hässlich gewesen sein. 

Eine schrecklich hässliche Familie

Medusa war aber nicht allein, denn sie hatte noch zwei Schwestern, die man unter der Bezeichnung „Gorgonen“ kannte. Diese drei Schwestern waren dem Mythos nach die Töchter des Meeresgottes Phorkys und eines Seeungeheuers2. Und sie alle drei waren gleich scheußlich. Bekannt geworden ist von den drei Gorgonen aber nur Medusa.

Und das liegt wiederum an der bekannten Geschichte vom griechischen Helden Perseus, der (neben weiteren ruhmreichen Taten) auch für das Ende der Medusa verantwortlich war.3 Der Grundplot dabei ist ähnlich wie bei der Herakles-Sage: Um seinen Heldenmut und seine Kampfkraft zu beweisen, soll Perseus das Scheusal im Auftrag des Polydektes, seines Zeichens König von Seriphos, erledigen. Fieser Plot-Twist: Polydektes rechnet damit, dass Perseus dies nicht schaffen wird und will sich so dieses unliebsamen Gastes entledigen. 

Perseus aber wird von den Göttern mit Flügelschuhen ausgestattet, so dass er das Heim der Gorgonen weit im Westen überhaupt erreichen kann, ferner mit einem Tarnumhang ausgerüstet und von der Göttin Athene mit einem spiegelnden Schild beschenkt, der noch eine wichtige Rolle spielen wird. 

So ausgerüstet kann sich Perseus unbemerkt an die drei schlafenden Schwestern heranschleichen. Um Medusa nicht direkt anschauen zu müssen, blickt er dabei auf ihr Spiegelbild im Schild der Athene. Warum dieses Spiegelbild weniger grauenvoll ist als die Wirklichkeit, bleibt das Geheimnis des Mythos. Jedenfalls gelingt es Perseus, Medusa mit seinem Schwert zu enthaupten und schnurstracks die Flucht zu ergreifen, bevor die verbliebenen Schwestern erwachen und unter lautem Heulen und Brüllen die Verfolgung antreten. 

Ein Kopf macht Karriere

Weniger grauenhaft, mehr… desillusioniert? Das Haupt der Medusa in einem Gemälde von Arnold Böcklin, ca. 1878 (gemeinfrei)

In erster Linie sind die beiden Schwestern selbstverständlich wegen des Mordes ziemlich aufgebracht. Zu allem Überfluss hat Perseus aber auch gleich noch den Kopf der soeben Getöteten mitgehen lassen. Wer weiß, wozu man den noch brauchen kann. 

Die erste Gelegenheit für einen gewinnbringenden Einsatz des Kopfes lässt übrigens nicht lange auf sich warten, denn auf dem Rückweg von seinem Abenteuer rettet Perseus die Prinzessin Andromeda vor einem Meerungeheuer.4 Ihr  Vater hatte Perseus für die Rettung versprochen, ihm seine gerettete Tochter zur Frau zu geben. Das Problem: Andromeda ist bereits verlobt. Und ihr bisheriger Verlobter denkt nicht daran, seine Pläne aufzugeben. Um es kurz zu machen: Der Verlobte wird am Ende Perseus’ erstes Versteinerungsopfer.  

Der Riese Atlas ist ein weiteres prominentes Opfer. Sein versteinerter Körper bildet heute das gleichnamige Gebirge in Marokko.5 Schließlich gelangt der Kopf in den Besitz der Göttin Athene, die ihn auf ihren Schild setzt.6 

Übrigens an dieser Stelle ein kleiner Werbeblock in eigener Sache: Wer die Geschichten rund um Perseus etwas genauer nachlesen möchte, kann das in einem Blogpost tun, den wir seinerzeit über ihn schon mal veröffentlicht haben. 

Eine unerwartete Vorgeschichte

Aber zurück zur Medusa und ihrem Kopf. Ob der nämlich im Laufe der ganzen Zwischenstationen wenigstens professionell einbalsamiert wurde, ist nicht überliefert. Vielleicht war das irgendwann auch eine einigermaßen fiese Angelegenheit. Auf jeden Fall scheint er jedoch noch ziemlich viel Blut verloren zu haben, denn unterwegs soll Perseus zahlreiche Tropfen davon in praktisch ganz Nordafrika verteilt haben. Aus diesem Blut sollen giftige Vipern entstanden sein, die seitdem zur Plage für die Region wurden.7 

Übrigens war Medusa nicht immer das Monster, als das wir sie heute kennen und auch noch oft in Filmen sehen. Sie bekam schon in der Antike, allerdings vermutlich erst ab etwa dem 5. Jahrhundert v. Chr., eine Backstory, die ihrer Geschichte ein wenig mehr Tiefgang verleiht. 

Demnach war Medusa anfangs eine sehr hübsche junge Frau8 und göttlicher Zorn die Ursache dafür, dass sie ihr abstoßendes Äußeres erhielt. So soll sie mitten in einem Tempel der Athene ein Tête-à-tête mit dem Gott Poseidon gehabt haben.9 Darüber war die Göttin offenbar so erzürnt, dass sie die arme Medusa so verunstaltete, wie wir sie heute kennen. 

Diese Variante des Mythos lässt allerdings die beiden Schwestern außen vor, die ja genauso hässlich waren wie Medusa. Eine plausible Erklärung für deren Hässlichkeit fehlt in dieser Geschichte. 

Über den Nutzen eines Ungeheuers im Alltag

Eine römische Kamee aus dem 2. oder 3. Jhd. n. Chr. mit dem Haupt der Medusa, Foto: Sailko, CC BY SA 3.0

Aber was kann uns Medusa als mythologische Gestalt heute noch sagen? Es gab und gibt natürlich die unterschiedlichsten Ansätze, um die Figur und ihre Geschichte zu interpretieren, darunter einige ziemlich abgedrehte und einige etwas bodenständigere. 

Fest steht, dass die Figur schon in der Antike nicht nur negativ gesehen wurde. Das zeigt sich nicht nur dadurch, dass sie die erwähnte Backstory erhielt und in literarischen Werken oder künstlerischen Darstellungen als hübsche Frau  dargestellt wurde. Ihr wurde auch ein Nutzen beigemessen, denn Darstellungen der Medusa wurden in der Antike als Schutz eingesetzt. Das klingt erst mal paradox, ergibt aber irgendwo Sinn. 

Man malte, prägte, oder meißelte ihr Antlitz auf Waffen, Möbel, sogar Stadtmauern. Und sehr beliebt und verbreitet waren auch Amulette mit dem Haupt der Medusa. Alle diese Darstellungen hatten einen so genannten apotropäischen Zweck, das heißt, man hoffte, damit andere böse Gestalten oder Geister vertreiben zu können.10 

Das erinnert vielleicht in gewisser Weise an die vielen Drachengestalten, die im europäischen Mittelalter (und darüber hinaus) ihren Weg auf zahlreiche Flaggen und Embleme fanden. Auch Drachen waren dem Volksglauben nach ja keine sonderlich positiv besetzten Wesen, aber ihre Kraft, Stärke und Macht übertrug man dann doch ganz gern symbolisch auf sich selbst oder die eigene Sippe. 

War Medusa ein Gewitterdämon?

Wenn man eine mythologische Figur interpretieren möchte, kann man das natürlich auf mehreren Ebenen tun. Zum einen kann man sich die eher analytische Frage stellen, woher die Figur stammt, d. h. unter welchen Umständen und vielleicht auch zu welchem Zweck sie von den Menschen erdacht wurde. Dieser Ansatz kann erhellend sein und eine Figur in einem neuen Licht erscheinen lassen. Da die Entwicklung mythologischer Figuren aber schon mehrere Tausend Jahre her ist, kann man erwarten, dass die Ergebnisse eher als historisches Hintergrundwissen interessant sind. Ob uns das in unserer heutigen Zeit noch etwas sagt (d. h. in irgend einer Weise besonders anspricht), ist eher weniger zu erwarten. 

Und genauso ist es auch im Fall von Medusa (und ihren Schwestern). Seit dem 19. Jahrhundert steht die These im Raum, dass die Gorgonen im Kern Gewitterdämonen gewesen sein könnten.11 Dafür sprechen mehrere Punkte, zum einen ihr ohrenbetäubendes Brüllen. Die Tatsache, dass Menschen durch ihren Anblick erstarren, findet außerdem Anknüpfungspunkte in verschiedenen Redewendungen und Ausdrucksweisen der altgriechischen Sprache, die allesamt eine Verbindung zwischen Blitzen oder Unwettern sowie dem Erstarren oder Erschaudern zum Ausdruck bringen. Letztlich muss man aber sagen, dass diese Deutung spekulativ bleibt. 

Ob sie nun zutrifft oder nicht: Für uns heute wäre dieser Interpretationsansatz so oder so kaum noch interessant. Aber das an sich ist wiederum eine interessante Erkenntnis, denn es zeigt, wie sehr sich die Menschen der Antike noch von der Natur und Naturphänomenen beeindrucken ließen – und wie wenig das auf uns heute zutrifft. 

Warum Medusas Kopf eigentlich eine Vagina ist

Aber der menschlichen Fantasie sind letztlich keine Grenzen gesetzt – und die Medusa natürlich eine Figur, die diese Fantasie besonders anregt. Auch in Freuds Psychoanalyse hat die Medusa einen prominenten Platz erhalten12 und wurde dort als Symbol für Kastrationsängste interpretiert, und das in zwei Weisen. 

Zum einen wird der Kopf zum „Machtzentrum“ des weiblichen Körpers erklärt. Der Kopf repräsentiere die Genitalien. Insofern entspricht die Enthauptung der Medusa einer weiblichen Kastration.

Zum anderen bringt Freud auch eine zweite Form der Kastrationsangst mit dem Mythos in Verbindung. Der Anblick weiblicher Genitalien löse bei Jungen ein „Grauen“ aus, wenn sie erkennen, dass die Frau keinen Penis besitzt. Die Darstellung der Medusa mit Schlangen am Kopf sei daher eine Überkompensation, denn Schlangen seien schließlich Symbole für Penisse. 

Auch die Tatsache, dass (männliche) Menschen beim Anblick der Medusa versteinerten, wird von Freud ziemlich folgerichtig ausgedeutet. Der Anblick weiblicher Genitalien sorge schließlich (zumindest bei heterosexuellen Männern, müsste man wohl ergänzen) dafür, dass sie versteifen. Nicht komplett, aber gewisse, nun ja, Teile von ihnen. Und das wiederum verschaffe ihnen die beruhigende Gewissheit, dass sie einen Penis besitzen. 

Soweit die Zusammenfassung. Der entsprechende Text von Freud ist unvollständig, vermutlich handelte es sich eher eine vorläufige Notiz für ein späteres, ausführlicheres Werk. Deswegen es durchaus möglich ist, dass uns bestimmte Gedankengänge dabei verschlossen bleiben. Trotzdem hat die Psychoanalyse ihre wissenschaftliche Bedeutung heutzutage weitgehend verloren. Die Deutung der Medusa und ihrer Enthauptung ist ein eindrückliches Beispiel dafür, warum das auch ganz gut ist, denn letztlich handelt es sich dabei nicht um nachprüfbare Fakten, sondern um eine Interpretation, der man sich anschließen kann oder auch nicht. 

Das ist doch alles viel zu phallozentrisch!

Ebenfalls eine sehr bekannte Darstellung der Enthauptung der Medusa von Benvenuto Cellini (1554), Foto: Morio, CC BY SA 3.0

Auch wenn man Freuds Interpretationsansatz belächelt, so war er seinerseits doch sehr fruchtbar für die feministische Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die gesamte Geschichte um Medusa und ihre Enthauptung wird dabei in den Kontext der Auseinandersetzungen um die Machtverhältnisse der Geschlechter gebracht. Dabei wurde auch auf Freuds Interpretation zurückgegriffen, diese aber auch als phallozentrisch kritisiert. In Freuds Interpretation geht es ja vor allem um den Jungen, der durch den Anblick einer Vagina schwer traumatisiert wird. Das eigentliche Opfer in der Medusa-Geschichte ist aber nun mal unzweifelhaft sie selbst. Im Kern aber wird die Interpretation beibehalten und lediglich ihre Perspektive auf die weibliche Figur verschoben, nämlich Medusa. 

Es würde an der Stelle zu weit führen, diese Ansätze alle im Detail zu durchleuchten.13 Daher nur die Eckpunkte: Sofern man der Deutung folgt, dass Perseus Medusa aufgrund seiner Furcht vor einer mächtigen Frauenfigur und seiner Kastrationsangst enthauptet, dann folgt logischerweise daraus auch, dass er die bestehenden Machtverhältnisse bestätigt und stützt. Die Tatsache, dass Perseus außerdem später noch mit dem Haupt der Medusa durch die Weltgeschichte reist, würde bedeuten, dass er einen sexualisierten Teil des weiblichen Körpers wie eine Trophäe vor sich herträgt. Nur als Reminder: Der Kopf entspricht ja laut diesem Ansatz der Vagina. 

Ist das nicht etwas weit hergeholt?

Man muss an dieser Stelle erst mal grundsätzlich sagen, dass natürlich jede Person ein Recht darauf hat, den Mythos in ihrer persönlichen Weise zu sehen und zu interpretieren. Allerdings sollte man eben auch daran erinnern, dass sich die feministischen Interpretationsansätze sehr weit von dem historischen Kontext entfernen, in dem der Mythos mutmaßlich einst entstanden ist. Es ist daher auch fraglich, wie weit man eine solche Interpretation treiben sollte. 

Man kann sicherlich so weit gehen, in Medusa eine mächtige Frauenfigur zu sehen. Und der Vergleich mit anderen mythologischen Figuren (wie zum Beispiel Kalypso in der Odyssee oder Medea in der Argonautensage) macht deutlich, dass solche Gestalten fast immer auch eine bedrohliche Komponente hatten. Mächtige Frauen im Mythos sind nicht selten Hexen, Zauberinnen oder eben Scheusale wie die Medusa. Nach allem, was wir über die antiken griechischen und römischen Gesellschaften wissen, stellten mächtige Frauen das herrschende Patriarchat in Frage. 

Das Ganze wird aber dadurch verkompliziert, dass mythologische Figuren der Antike nie eindimensional sind. Sie haben alle ihre Licht- und Schattenseiten. Das ist typisch für die antike Mythologie und widerspricht dem Denken, das in unseren mitteleuropäischen Sagen, Märchen und Legenden der letzten Jahrhunderte zu finden ist. Die böse Hexe ist in unseren Märchen immer eindeutig böse, Siegfried unzweifelhaft der große Held.

In der Antike ist Herkules aber gleichzeitig ein großer Held und ein Mann, der sich in einem archaischen Ideal von Männlichkeit verliert, das ihn am Ende zum Auslaufmodell werden lässt. 14 Medusa ist die mächtige Zauberin, die ihre eigenen Kinder tötet. Aber sie ist auch die Frau, die ihrem Geliebten Jason den Arsch rettet, indem sie ihm in einer lebensgefährlichen Aufgabe unter die Arme greift. 

Kann man so machen, ist aber fragwürdig

Es ist eigentlich eher faszinierend zu sehen, wie die Antike mit den Figuren spielte. Auch die Gestalten, die man als bedrohlich empfand und die die eigene Gesellschaftsordnung in gewisser Weise in Frage stellten, bekamen ihre positiven Momente. Im Fall von Medusa dauerte es einige Jahrhunderte, bis man ihre Schönheit entdeckte. Kalypso oder Medea hatten aber schon von Anfang an (das heißt schon in den frühesten uns bekannten Erzählungen) auch ihre positiven Seiten. 

Die modernen feministischen Interpretationen sind daher sehr einseitig. Sie blenden viele Aspekte des Medusa-Mythos aus. Außerdem ignorieren sie auch auf einer übergeordneten Ebene, wie die antike Mythologie überhaupt funktionierte. 

Das ist natürlich nicht verboten, aber man muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass die Deutungen ziemlich an den Haaren herbeigezogen wirken. Man kann sich darüber streiten, wie gut sich die Medusa-Geschichte überhaupt dafür eignet, Kritik am Patriarchat zu üben. Damit ist man bei der Frage angekommen, welchen Zweck eine solche Interpretation eines jahrtausendealten Mythos überhaupt verfolgt. 

Der Kern des Problems mit der Psychoanalyse

Man muss sich also nach dem Bezugspunkt der Interpretation fragen, also ob sie historisch oder modern ist. Konkret: Ist die Gleichsetzung des Kopfes mit dem Genitalbereich etwas, das eine Person der Antike so verstanden hätte? Oder ist das eine Assoziation, die wir heute haben? Oder handelt es sich sogar um eine überzeitliche Assoziation? 

In allen drei Fällen wird man schnell auf Widerspruch stoßen. Man muss eine solche Annahme ja schon irgendwie belegen können. Für die Antike können wir das nicht. Für die Moderne wird das echt schwierig. Und das Ganze als überzeitliche Sichtweise zu präsentieren, die „tief in uns allen verwurzelt ist“, das ist dann schon eine ziemlich gewagte Hypothese. 

Hier gelangt man ohnehin zum Kern des Problems mit der Psychoanalyse, denn ihr Wesen ist es ja gerade, dass sie Bilder, Metaphern und Vorstellungen postuliert und untersucht, die unser Denken zwar prägen, die uns aber kaum oder gar nicht bewusst sind. Und da hat man es naturgemäß schwer, die in irgend einer Form nachzuweisen. 

Also bleibt uns nur noch, die Ansätze als literarische Fiktion zu begreifen, das heißt, dass die Interpretation selbst eine fiktionale Veranschaulichung einer mehr oder weniger theoretischen Weltsicht ist. Dann würde die Interpretation nicht mehr für sich beanspruchen, dass sie anhand konkreter Fakten überprüfbar wäre oder mit Tatsachen in Einklang gebracht werden müsste. Sie wird eben selbst zu einem literarischen Text und soll einfach nur noch einen Gedankengang illustrieren. Frei nach dem Motto: Mir doch egal, was die Altertumskunde dazu sagt. Ich mach mir die Medusa so, wie ich sie will. Sie dient ja nur zu Illustrationszwecken. 

Die Kritik der Kritik einer Kritik

Der Anspruch an die literarische Fiktion lautet aber nun mal, dass sie nur so weit fiktional sein soll, dass sie unterhaltsam (oder lehrreich oder in irgend einer anderen Weise bemerkenswert) ist. Gleichzeitig soll sie aber auch so nah an der Realität bleiben, dass sie glaubhaft bleibt. Und ob die genannten Interpretationsansätze diesem Anspruch noch gerecht werden, darüber kann man geteilter Meinung sein. Damit wären die nun folgenden Sätze keine kritische Auseinandersetzung mehr, sondern eher eine Rezension: 

Es braucht keine esoterische Gleichsetzung von Köpfen und Geschlechtsteilen, um deutlich zu machen, dass man Medusa metaphorisch als eine Figur lesen kann, die das herrschende Patriarchat bedroht. Und Perseus muss auch keine Angst davor haben, seinen Penis zu verlieren. Die Deutung, dass er eine vermeintlich gewollte Ordnung wieder herstellt, indem er die mächtige Frauengestalt tötet, genügt schon. Und man kann auch noch was daraus machen, dass er den Kopf als Trophäe mitnimmt und sich so die Macht der getöteten Frau aneignet. 

Natürlich kann man das auch sexuell interpretieren. Dann wäre der mythologische Perseus, der mit Medusas Kopf hausieren geht, der junge Mann, der allen erzählt, wie toll seine neue Freundin im Bett ist. Inwiefern das allerdings bei seinen Kumpels dazu führt, dass sie reihenweise steif werden, wirft dann auch wieder die Frage auf, wie sehr man hier den Mythos für eine bestimmte Interpretation überdehnt. 

Das Naheliegende sollte man nicht aus den Augen verlieren

Man darf ja auch die einfache Erzählebene der Geschichte nicht vergessen: Perseus hat ein Ungeheuer besiegt. Kein Wunder, dass er den Kopf als Trophäe vor sich herträgt. Und dazu war es noch ein weibliches Monster, das eine unglaubliche Macht (unter anderem) über Männer hatte. Auch das ist natürlich ein interessanter Punkt der Interpretation, der sich außerdem gut mit den Kulturtatsachen der Antike in Einklang bringen lässt. Das geht alles auch ohne Gesichts-Vagina und Kastrationsängste. Und es ist eine Deutung, die uns auch heutzutage auch immer noch etwas zu sagen hat. 

Dass mächtige Frauen, die als Bedrohung empfunden werden, auf ihr Äußeres reduziert, mit Hass überzogen und anschließend zu Fall gebracht werden, das kennt man schließlich. Dass der Anblick von Annalena Baerbock, Luisa Neubauer oder Greta Thunberg bei gewissen Herrschaften konkrete Kastrationsängste triggert, darf man aber dann doch zumindest in Zweifel ziehen. Denn auch nach über hundert Jahren gibt es für diese Verbindung keine wissenschaftlichen Belege. Und solange die nicht vorliegen, bleibt die Psychoanalyse nun mal Küchenpsychologie. Da kann es noch so amüsant sein, das (Fehl)verhalten mancher heterosexueller Männer mithilfe ihrer Genitalien zu erklären. Nüchtern betrachtet, dreht sich aber nun mal nicht alles im Leben um Penisse und Vaginas. 

  1. Und da gibt es eine Menge. Beschreibungen der Medusa findet man unter anderem hier: Homer, Ilias V, 741; Apollodor II, 4; Ovid, Metamorphosen IV, 771.
  2. namens Keto, die ihrerseits auch teilweise als Gottheit bezeichnet wird, Hesiod, Theogonie 270-276
  3. Apollodor II,4,2
  4. Ovid, Metamorphosen IV,663-753
  5. Ovid, Metamorphosen IV,621-662
  6. Homer, Ilias V738-742; Allerdings sind diese Verse umstritten. Vermutlich handelt es sich um Zufügungen eines späteren Autors (eine sogenannte Interpolation).
  7. Apollonios von Rhodos, Argonautika IV,1515; Ovid, Metamorphosen IV,770
  8. Bei Pindar, Pythische Ode XII, 16 wird sie bereits als eine Frau mit „schönen Wangen“ beschrieben.
  9. Ovid, Metamorphosen IV,794-803
  10. Darüber gibt es sogar ein eigenes Buch: Konrad Levezow, Über die Entwickelung des Gorgonenideals in der Poesie und bildenden Kunst der Alten, Berlin 1833
  11. vgl. W. Roscher, Die Gorgonen und Verwandtes, Leipzig 1879
  12. Sigmund Freud, Das Medusenhaupt, Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago, Bd. XXV, 1940, Heft 2, hier online einsehbar
  13. Besonders Hélène Cixous (Das Lachen der  Medusa, Wien 2013) und Wendy Doniger (Off with Her Head! – The Denial of Women’s Identity in Myth, Religion, and Culture, Berkeley 1995) haben sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Mythos auseinandergesetzt.
  14. Im Argonauten-Epos des Apollonios von Rhodos aus dem 3. Jhd. v. Chr. steht Herakles als Vertreter der „alten Helden aus grauer Vorzeit“ einem neuen Typus von Helden (wie Jason) gegenüber. Nicht mehr Körperkraft und Kampfesmut sind die entscheidenden Erfolgsgaranten, sondern Klugheit und Teamgeist. Sehr bildlich taucht Herakles ein letztes Mal in der Ferne als schemenhafte Gestalt in der Ferne auf, bevor er sich im Dunkel der Geschichte verliert, IV 1478-1479.

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