Das Kuriositätenkabinett der Insel Kreta

Kreta ist einer der sagenhaftesten und auch rätselhaftesten Orte der ganzen Antike. Hier entstanden die ersten europäischen Paläste und die ältesten Zeugnisse der griechischen Sprache. Und obendrauf gibt es noch einige der bekanntesten Mythen der Weltgeschichte: Der Minotaurus, Daedalus und Ikarus – alle diese Geschichten spielen auf Kreta. Zeit für eine Würdigung dieser Insel.

Disneyland der Archäologie

Kreta hat eine ganz schön lange Geschichte. Die kann man gar nicht im Rahmen eines Blogbeitrags aufrollen, und das will ich auch nicht. Aber es geht ja hier um eine Würdigung. Deswegen können so ein paar Stichworte nicht fehlen: Minoer, Hieroglyphen, Mykener und Linear B. Und Stiere. Eine Menge Stiere sogar. 

Die erste Hochkultur auf europäischem Boden entstand auf Kreta. Das hat mit ziemlicher Sicherheit auch etwas mit ihrer Lage am südlichen Rand des Kontinents zu tun, in unmittelbarer Nachbarschaft Ägyptens und des so genannten „fruchtbaren Halbmonds“. In diesen Regionen entwickelten sich die ersten städtischen Kulturen und breiteten sich über Jahrhunderte aus. Und diese kulturellen Entwicklungen strahlten selbstverständlich über die Grenzen Ägyptens und Mesopotamiens hinaus.  

Der Nordeingang der Palastanlage, teilweise rekonstruiert (und angemalt), Foto: Bernard Gagnon, CC BY-SA 3.0

Jedenfalls entwickelten sich auf Kreta um das Jahr 2.000 vor Christus die ersten städtischen Zentren.1 Ein wichtiges Kennzeichen dieser Entwicklung waren die so genannten Paläste, also große Verwaltungszentren, in denen (höchstwahrscheinlich) eine Herrscherelite ihren Sitz hatte, die die zugehörige Stadt und das umliegende Land kontrollierte. Die imposanten Reste dieser Paläste kann man heute  noch besichtigen, zum Beispiel in Knossos – auch wenn der britische Ausgräber Arthur Evans dort ziemlich wütete und Anfang des 20. Jahrhunderts unter Zuhilfenahme von ganz schön viel Beton damit begann, Teile des Palastes zu rekonstruieren. 

Heutige Archäolog*innen sehen die Ausgrabungsstätte daher wohl eher als eine Art Disneyland an, denn viele der Rekonstruktionen von Evans sind längst überholt.2 Nur leider sind sie buchstäblich einbetoniert und erschweren neuere Forschungen. 

Kretische Schriftverwirrung

Der so genannte „Diskos von Phaistos“ zählt zu den rätselhaftesten Schriftzeugnissen aus der minoischen Zeit. Was auf der Tafel steht, ist immer noch unbekannt, trotz unzähliger Versuche, die Schrift zu entziffern. Manche Forscher*innen halten ihn sogar für eine Fälschung. Wenn er echt ist, stammt er aus der Zeit von 1850-1400 c. Chr. Foto: C messier, CC BY-SA 4.0

Aber ein Verdienst von Evans ist immerhin, dass er Knossos zu einem weltberühmten Ort machte. Aber nicht nur die Paläste machten Kreta so bekannt, sondern auch eine Schrift, die der Forschung bis heute Rätsel aufgibt. Die Rede ist von der so genannten kretischen Hieroglyphenschrift. Wie der Name schon vermuten lässt, geht die Forschung heute davon aus, dass womöglich die ägyptischen Hieroglyphen für dieses Schriftsystem Pate  standen.3 Die kulturellen Einflüsse in der Bronzezeit waren also schon sehr weitreichend. 

Allerdings waren die Einwohner*innen Kretas immerhin so kreativ, dass sie zwar das Prinzip bildhafter Zeichen und Symbole übernahmen, sich aber ganz eigene Symbole einfallen ließen, so dass wir die kretische Hieroglyphenschrift bis heute nicht entziffern können. Ihre Nachfolgerin, das so genannte „Linear A“, hat immerhin schon gewisse Ähnlichkeiten mit späteren Schriftsystemen, so dass man Rückschlüsse ziehen kann. Aber auch das bringt uns nur begrenzt weiter, da wir die Sprache der Minoer*innen trotz aller Versuche bis heute noch nicht so recht einordnen und verstehen können. Wie die Minoer*innen also sprachen, was sie dachten und fühlten, das ist für uns immer noch hinter kryptischen Symbolen und Zeichen verborgen. 

Fest steht nur, dass die Kultur der Minoer um das Jahr 1.600 vor Christus unterging.4 Lange Zeit vermutete man, der katastrophale Vulkanausbruch auf der Insel Santorin habe damals die herrschenden Verhältnisse umgewälzt. Vermutlich gab es aber, wie so oft, mehrere Ursachen für den Untergang dieser frühen Hochkultur. 

Menschenopfer und Weltuntergänge

Kreta behielt aber auch in der Folgezeit eine besondere Bedeutung, sowohl politisch, als auch wirtschaftlich und kulturell. Die zweite große Hochkultur nach den Minoer*innen entwickelte sich zwar auf dem Festland, rund um die Stadt Mykene, nach der sie auch den Namen „mykenische Kultur“ erhielt.5 Aber auch für die Mykener*innen war Kreta nach wie vor ein wichtiges Zentrum. Die Mykener*innen benutzten dann übrigens auch endlich mal ein Schriftsystem, das wir heute wieder lesen können. Und ihre Sprache legt uns auch nicht so viele Steine in den Weg, denn es handelte sich um eine frühe Form des Griechischen. Daher können wir uns von den Mykener*innen ein etwas besseres Bild machen. 

Und trotzdem bewahrt auch die mykenische Kultur so ihre Geheimnisse. Auf einigen Tontafeln ist von Menschen die Rede, die in irgend einer Weise Göttern gehören oder gehören sollen. Gab es etwa Menschenopfer in dieser frühen Hochkultur? Das ist bis heute in der Forschung umstritten.6 Auch über den Untergang der mykenischen Kultur streitet die Forschung. Um etwa 1.200 vor Christus befand sich die Welt des östlichen Mittelmeers im Umbruch. Das Reich der Hethiter ging unter, das Alte Testament berichtet von der Ankunft eines fremden Volkes, das sich „Philister“ nennt, und Pharao Ramses III. brüstet sich damit, die rätselhaften „Seevölker“ zurückgeschlagen zu haben, die sein Reich bedrohten.

In der Forschung herrscht keine Einigkeit darüber, was da genau vor rund 3.000 Jahren geschehen ist. Offenbar scheint es größere Migrationsbewegungen gegeben zu haben, die zum Niedergang ganzer Reiche führten.7 Mittendrin in diesen Umwälzungen jedenfalls befand sich die mykenische Palastkultur auf dem griechischen Festland und den Inseln. Sie überstand diese Phase leider nicht, aber einiges von dem, was die mykenische Kultur ausmachte, konnte sich dann doch in die so genannte „historische Zeit“ der griechischen Geschichte retten.   

Dieses berühmte Fresko aus Knossos (ca. 1500 v. Chr.) zeigt junge Männer, die über einen Stier springen. Was das Ganze sollte, weiß bis heute niemand. Foto: Jebulon, CC0

Helden, Mythen und Stiere

Homers Epen wurden zwar rund 400 Jahre später erst niedergeschrieben, aber in ihnen lebte die Kultur der Mykener*innen weiter, denn der trojanische Krieg spielt in einem mykenischen Setting. Der Alltag und das Umfeld der Homerischen Helden war schon zu Homers Zeiten historisch und entsprach nicht mehr den Gegebenheiten der eigenen Zeit. Und überhaupt ist die griechisch-römische Sagenwelt durchsetzt mit Geschichten, Sagen und Legenden, die allesamt schon in minoischer oder mykenischer Zeit entstanden sein dürften oder diese Zeit zumindest reflektieren. 

Stiere spielten schon bei den Minoer*innen eine wichtige Rolle, auch wenn wir bis heute nicht ganz nachvollziehen können, warum. Man fand in Knossos (aber auch an anderen Orten) diese berühmten Darstellungen von jungen Männern, die über Stiere springen. Ob es sich dabei um eine religiöse Zeremonie handelte? Oder ein Ritual im Zusammenhang mit dem Erwachsenwerden junger Männer? Wir wissen es nicht. 

Jedenfalls zieht sich die besondere Bedeutung der Stiere wie ein roter Faden durch die Geschichte und die Geschichten rund um Kreta. Auf den roten Faden werden wir übrigens auch noch mal zurückkommen müssen, aber erst mal zu den Stieren. 

Sex mit Tieren kann unangenehme Folgen haben

Das bekannteste Stierwesen ist der Minotaurus. Und der hatte eine etwas eigenwillige Entstehungsgeschichte. Der erste König der Minoer hatte eine Gattin namens Pasiphaë. Und die wiederum entwickelte ein sexuelles Verlangen danach, von einem Stier bestiegen zu werden.8 Aus diesem Grund holte Minos den weltbekannten Architekten,  Baumeister und Erfinder Daedalus nach Kreta. Er sollte sich des Problems annehmen. Daedalus baute die täuschend echte Attrappe einer Kuh, in die Pasiphaë hineinsteigen konnte. Der Plan ging auf, denn ein Stier hielt die Attrappe tatsächlich für eine Kuh, bestieg sie und schwängerte so Pasiphaë. 9

Der Minotaurus auf einem attischen Tongefäß (ca. 515 v. Chr.), Foto: Marie-Lan Nguyen, CC-BY 2.5

Die Welt des Mythos weist ja schon mal öfter eine sehr einfache Logik auf, denn Pasiphaë gebar daraufhin ein Mischwesen, nämlich einen Menschen mit Stierkopf – den Minotaurus. Der Name heißt übrigens wörtlich übersetzt so etwas wie „Minos-Stier“, obwohl Minos bei seiner Zeugung genau genommen ja nur eine dienende  Funktion hatte. 

Aber in dem Teil der Geschichte, der darauf folgt, nimmt Minos eine sehr wichtige Rolle ein. Besagter Minotaurus war nämlich nicht nur äußerlich teilweise ein Tier, sondern besaß auch ein entsprechendes Wesen. Er war wild, unzähmbar und gefährlich. Und offenbar schreckte er nicht davor zurück, Menschen zu fressen. 

Minos beauftragte erneut seinen erfolgreichen Baumeister Daedalus, eine Lösung zu finden. Das Vieh musste irgendwie gebändigt werden. Und hierzu erfand Daedalus das Labyrinth. Darin sollte der Minotaurus eingesperrt werden und nie wieder herausfinden.10 Und nun kommt der Part, in dem König Minos eine sehr unrühmliche Rolle spielt. 

Ein roter Faden rettet Menschenleben

Der Legende nach spielten sich diese Ereignisse zu einer Zeit ab, als die Minoer*innen große Teile Griechenlands mittelbar oder unmittelbar unter ihrer Kontrolle hatten. Und scheinbar waren das keine besonders guten Zeiten für die unterworfenen Städte und Völker. Minos jedenfalls hatte aus gewissen Gründen Beef mit der damals noch unbedeutenden Stadt Athen. Um die Athener*innen nach einem verlorenen Krieg zu bestrafen, forderte er von ihnen, dass sie alle sieben Jahre sieben junge Männer und Frauen schicken sollten, die man dem Minotaurus opfern könne. 11

Die Athener*innen beugten sich zähneknirschend dieser grausamen Forderung, doch nach einiger Zeit regte sich Widerstand. Und so schickten sie den Helden Theseus, um diese brutale Praxis zu beenden. Theseus fuhr nach Kreta, suchte den Minotaurus in seinem Labyrinth auf und tötete ihn. Die Opferforderungen hatten ein Ende.12

Allerdings hatte Theseus Hilfe, und hier kommen wir auf den roten Faden zurück. Ariadne, die Tochter des Königs Minos, überreichte Theseus einen Faden (oder wohl eher ein Knäuel), den er am Eingang des Labyrinth befestigen konnte, um so nach der erfolgreichen Ermordung des Ungeheuers den Rückweg finden zu können. 

Ob der Faden wirklich rot war, ist nicht überliefert. Folglich ist auch nicht ganz klar, ob diese Geschichte tatsächlich der Ursprung des Ausdrucks vom „roten Faden“ ist. Schließlich spielte die Webkunst über Jahrhunderte und Jahrtausende im Alltag der Menschen eine sehr große Rolle. Es gab also viele Anlässe, Metaphern aus diesem Bereich in den Sprachschatz zu übernehmen. Wir kennen ja auch noch den Leitfaden, an dem wir uns orientieren können, und mögen es nicht gern, wenn wir den Faden verlieren. 

Die Sache mit dem Ariadnefaden ist aber in jedem Fall die erste und älteste Geschichte des europäischen Sagenschatzes, in dem ein Faden eine entscheidende Rolle spielt. 

Der berühmteste Fluchtversuch der Weltgeschichte

Planten den berühmtesten Fluchtversuch der Geschichte: Daedalus und sein Sohn Ikarus, hier kurz vor Abflug. Gemälde von Frederick Leighton, c. 1869

Die Geschichte geht aber noch weiter. Eigentlich könnte man meinen: Minotaurus tot, Menschenopfer abgeschafft, alles gut. Aber uns fehlt noch die Geschichte von Daedalus und Ikarus. Denn Daedalus fühlte sich auf Kreta zunehmend gefangen und wollte in seine alte Heimat zurückkehren. Und seinen Sohn Ikarus wollte er natürlich mitnehmen.13
Das Reich des Königs Minos war, wie schon erwähnt, eine Großmacht seiner Zeit. Er würde es seinem genialen Baumeister nicht erlauben, die Insel zu verlassen. Und selbstverständlich waren die Minoer auch sehr gute Bootsbauer und Seeleute. Das machte es umso schwerer, die Flucht zu Wasser zu versuchen.

Jedenfalls musste sich Daedalus gewaltig was einfallen lassen, wenn er unbeschadet das Reich des  Minos verlassen wollte. Durch Naturbeobachtung kam er schließlich auf die berühmte Idee, die heute noch jede*r kennt. Er baute für sich und seinen Sohn ein paar Flügel, die sie sich auf den Rücken spannen konnten, um davonzufliegen. 

Er hatte die Rechnung allerdings ohne den Leichtsinn seines jungen Sohnes gemacht. Trotz aller Warnungen flog der zu nah an die Sonne. Da die Federn der Flügel durch Wachs zusammengehalten wurden, ging das nicht gut, und Ikarus stürzte in die tosende See, in der er ertrank. 

Das ist sicherlich die bekannteste Legende von der Insel Kreta, nicht nur, weil sie tausendfach erzählt und bearbeitet wurde. Sie fasziniert bis heute, denn sie lässt viel Raum für Interpretationen. Die heute vielleicht häufigste Lesart ist die Warnung vor der menschlichen Hybris – also vor dem Glauben, dass man sich als Mensch einfach so über die Naturgesetze hinwegsetzen könnte. Die Geschichte soll uns demnach vor allem Demut vor der Natur, vor ihren Gesetzen und auch vor den Tücken der Technik lehren.

Dialog durch die Jahrtausende

Wenn man einmal annimmt, dass man die Sagen und Legenden von der Insel halbwegs historisch verorten kann, dann spielten sie sich alle vor rund 4.000 Jahren ab. Und sind doch erstaunlich modern. Eine Geschichte zu erzählen, die über die Jahrhunderte und Jahrtausende aktuell bleibt und auch noch den Menschen im Jahr 2021 nach Christus etwas sagen kann, das muss man erst mal nachmachen. 

Und diese Zeitlosigkeit ist vielleicht überhaupt das Spannendste an der Geschichte der Insel, deren erste Hochkultur schon vor vielen Jahrtausenden untergegangen ist, uns aber trotzdem so viel hinterlassen hat. 

  1. Josef Fischer, Griechische Frühgeschichte bis 500 v. Chr., Darmstadt 2010, S. 14
  2. Josef Fischer, Griechische Frühgeschichte bis 500 v. Chr., Darmstadt 2010, S. 16
  3. zu den kretischen Schriftsystemen generell: Josef Fischer, Griechische Frühgeschichte bis 500 v. Chr., Darmstadt 2010, S. 31
  4. Josef Fischer, Griechische Frühgeschichte bis 500 v. Chr., Darmstadt 2010, S. 21
  5. Josef Fischer, Griechische Frühgeschichte bis 500 v. Chr., Darmstadt 2010, S. 22
  6. Louise Schofield: Mykene, Geschichte und Mythos. Mainz 2009, S. 163
  7. Josef Fischer, Griechische Frühgeschichte bis 500 v. Chr., Darmstadt 2010, S. 45
  8. Das tat sie übrigens nicht aus Langeweile, sondern aufgrund einer Bestrafung durch den Gott Poseidon.
  9. Apollodor III,1,3-4
  10. Apollodor III,1,4
  11. Diodorus Siculus Bibliotheca IV,61
  12. Plutarch, Theseus 19
  13. Die berühmteste Bearbeitung der ganzen Geschichte findet sich bei Ovid, Metamorphosen VIII,183-235

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert