Bei „Disco“ denken die meisten von euch jetzt bestimmt an glitzernde Kostüme, wilde Frisuren und stampfende Beats. Und vor allem an die 70er. Stimmt ja auch: Das, was man früher „Disco“ nannte, heißt heute eher „Club“. „Disco“ ist nicht nur eine Musikrichtung, sondern ein popkulturelles Phänomen. Und der Begriff hat zur Abwechslung mal vor allem in der jüngsten Neuzeit eine Entwicklung durchgemacht, die viel über unsere Zeit verrät. In diesem Sinne: Let the Music Play.
Namedropping
Den meisten fallen sicher auch sofort ein paar Namen ein wie ABBA, Boney M., die Bee Gees vielleicht auch Ashford und Simpson, Sylvester oder Baccara. Kitsch, Oberflächlichkeit und gnadenlose Kommerzialisierung – das sind auch so ein paar Stichworte, mit denen viele Disco umreißen würden. Und seichte Texte, die manchmal hart am Nonsens kratzen.
Ich meine: Wer ist Bahama Mama und warum hat sie das größte Haus der Stadt? Gut, sie hat bekanntermaßen sechs unverheiratete Töchter. Vielleicht ist ihre Gebärfreude der Grund dafür, dass sie so ein geräumiges Anwesen benötigt.
Ach ja: Und was muss das bitte für ein grandioser Kuchen sein, der im Regen steht und Donna Summer zu Tränen rührt? Ach ja stimmt, „I’ll never have that recipe again“. Schon klar, unwiederbringlich zerstört. Aber es ist nun mal nur ein Kuchen!
Ein Aufbewahrungsort für Scheiben
Aber kommen wir mal zum Sprachlichen: „Disco“ ist die Kurzform von „Diskothek“. Das Wort setzt sich aus den beiden altgriechischen Bestandteilen δίσκος (diskos) für „Scheibe“ und θήκη (theke) für „Ablage“ zusammen. Es ist also eine „Ablage für Scheiben“. Allerdings wurde der Wortteil θήκη (theke) auch schon in der Antike für Gebäude verwendet, in denen etwas aufbewahrt wurde. Bestes Beispiel ist die Biblio-thek, ein Aufbewahrungsort für Bücher.
Eine Diskothek ist also ein Aufbewahrungsort für Scheiben. Mit „Scheiben“ sind natürlich Schallplatten gemeint. Im Gegensatz zu einer Bibliothek (oder auch einer Videothek) ist eine Diskothek aber kein Ort, an den man geht, um sich in Ruhe Schallplatten anzuschauen und auszuleihen. Man hört sie dort, gemeinsam mit anderen, und hat Spaß.
Der Begriff kam aber nicht einfach nur zufällig in den 70ern auf. Man hätte ja auch beim guten alten Begriff „Tanzlokal“ aus den 50ern oder 60ern bleiben können. Nein, eine Disco war aus mehreren Gründen dann doch etwas Neues und Anderes.
Da war einmal die Tontechnik, die sich in den 70ern krass weiterentwickelt hatte. Erstmals war es möglich, Musik so hochwertig zu produzieren und wiederzugeben, dass man eine ganze Halle voller Menschen zum Tanzen bringen konnte, ohne dass dabei die Ohren bluteten. Und dann war da noch was: Disco als gesellschaftspolitisches Phänomen.
Wenn marginalisierte Gruppen anfangen, sich selbst zu feiern
Es gab vor allem drei Gruppen, die diesen Sound ab Mitte der 70er für sich entdeckten und eine ganz neue Kultur drumherum aufbauten: Die Schwarzen, die Schwulen und die Frauen. Für alle drei Gruppen war Disco mehr als eine Musikrichtung. Sie wurde zu einem identitätsstiftenden Lifestyle.
Schwarze Komponisten und Arrangeure wie Barry White oder Norman Whitfield prägten den Disco-Sound entscheidend mit ihren Soul- und R&B-Einflüssen. Und glamouröse schwarze Diven wie Donna Summer behaupteten selbstbewusst ihre Sexualität, indem sie einen ganzen Song lang orgasmisch ins Mikro stöhnten und damit das prüde Amerika bis zur Weißglut provozierten.
Die Gay Community fand in der Disco-Welt ebenfalls ihren Platz. Das lag zum einen sicher an der eskapistischen und exzentrischen Grundtendenz der Disco-Kultur, aber auch an ihrer Freizügigkeit. Erstmals fanden auch Versatzstücke aus der schwulen Subkultur ihren Weg in den Mainstream. Niemand kann sich alte Auftritte der Village People anschauen und das leugnen. Sorry, Leute: „In the Navy“ ist natürlich nur oberflächlich einfach nur ein Song über die Kriegsmarine. Und die christliche Hilfsorganisation „YMCA“ war nur deswegen so interessant, weil es da nur Männer gibt. Ach ja, „Go West“ meint übrigens nicht den globalen Westen im Kalten Krieg. Es geht um die große Abwanderungswelle vieler Schwuler ins liberale Kalifornien Ende der 70er Jahre.
Und wie das weiße Patriarchat den Kampf verloren hat
Das bunte Treiben stieß natürlich auf Widerstand: das „Disco sucks!“-Movement. Ob das öffentliche Verbrennen von Schallplatten wirklich so eine gute Idee war, sei hier mal dahingestellt. Hass gibt meistens nicht so besonders schöne Bilder.
In den 80ern fiel „Disco“ dann aber tatsächlich aus der Zeit. Die große Zeit dieser Musikrichtung schien vorbei zu sein. Aber das ist eigentlich eine Fehldeutung, denn natürlich entwickelte sich die Musik nur stilistisch weiter. Aus Discos wurden schließlich Clubs, aus der Disco-Musik wurden Dance-Tracks, und weder die selbstbewussten Frauen, noch die Schwarzen oder die Schwulen verschwanden von der Bildfläche.
Man könnte auch sagen: Die Elemente, die Disco ausgemacht hatten, verselbständigten sich und lebten in neuen Formen weiter. Gebracht hat das Verbrennen von Platten also nichts. Und so manche betagte Disco-Diva ist nach wie vor immer noch vorne mit dabei.
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