Das Leben ist kurz – oder vielleicht auch nicht?

Dass das Leben zu kurz sei, liest und hört man oft. Der Spruch ist wahrscheinlich so alt die Menschheit. Während man heute praktischerweise nur den Whatsapp-Status anderer Leute checken muss, um Tipps zu bekommen, die das eigene Leben revolutionieren werden, musste man in der Antike aber gelegentlich noch ein Buch lesen, um weiterzukommen. 

Nachdenken tötet Lebenszeit

„Das Leben ist kurz.“ Der Spruch ist wohl heutzutage Gemeingut. Man muss nur einmal kurz den aktuellen Status einiger Leute checken, um sich von der Blödheit unserer Zeit zu überzeugen. 

„Das Leben ist zu kurz, um zu streiten“, wird einem dort erklärt. Der Gedanke ist schön. Taugt vielleicht als Mantra. Wenn man es oft genug im Kopf wiederholt, klappt es vielleicht auch irgendwann, dass man sich im Moment aufwallender Aggression daran erinnert und entsprechend handelt. Dabei hilft einem aber kein hübsches visual statement mit einem einsamen Baum im Hintergrund. Das muss man schon selbst mit sich ausmachen. 

„Das Leben ist kurz. Trinke Wein. Zieh die Schuhe aus. Buche die Reise.“ – Mit anderen Worten: Man möge seine Zeit mit Belanglosigkeiten anfüllen, dann wird schon alles gut. Entspannung ist wichtig, keine Frage. Aber für manche mag es auch entspannend sein, abends ehrenamtlich die Kids im Fußballverein zu trainieren. Oder mal ein anspruchsvolles Buch zu lesen. Und zu dem Ding mit der Reise kommen wir noch.

„Wir denken zu viel über unser Leben nach, wir sollten lieber glücklich sein und lachen, denn das Leben ist zu kurz um nachzudenken.“ – Nun ja. Ein Leben ohne Nachdenken dürfte ziemlich schnell dazu führen, dass man bald nicht mehr viel zu lachen hat. Sorry, aber das ist nun mal leider so. Klar ist Grübeln nicht immer zielführend. Aber mal so eine ketzerische Frage: Hat mal jemand wirklich bewiesen, dass man zu viel nachdenken kann? Selbst scheinbar sinnloses Grübeln erfüllt doch oft auch einen Zweck, nämlich dass man ein Problem herumwälzt und es so verarbeitet.

Schon klar, alle diese Visual Statements sollen nichts Anderes sein als das, was man früher einen Aphorismus nannte, also einen griffigen Spruch oder ein Zitat, das man sich leicht merken kann und das eine Handlungsmaxime für viele Situationen im Alltag liefert. Sie schleppen dasselbe Problem mit sich, das auch Aphorismen haben: Ohne Kontext sind sie mehr oder weniger sinnlos oder schlimmstenfalls sogar missverständlich. (Man denke an das berühmte „Tu, was du willst.“ aus der Unendlichen Geschichte.)

Mit anderen Worten: Ein Aphorismus erfüllt dann seinen Zweck, wenn man ihn auch inhaltlich einordnen kann: Von wem stammt der Spruch? In welchem Kontext steht er und welche Überlegungen haben zu diesem schönen, knappen und gut zitierbaren Spruch geführt? Oder alternativ: Wenn man ihn selbst mit Sinn füllen kann, eine eigene Interpretation vorweisen kann.

Lebenszeiten hier und dort, damals und heute 

Der griechische Arzt Hippokrates gilt als Urheber des Spruchs „Das Leben ist kurz.“ Hier ist er – als weiser Mann natürlich mit Bart – in einem Stich von Rubens zu sehen. (1638, gemeinfrei)

Übertragen auf die heute so beliebten Visual Statements würde das bedeuten: Im Idealfall denkt man erst mal selbst gründlich darüber nach, inwiefern man das Leben als kurz empfindet und was genau man dagegen tun kann oder sollte.

Auch wenn einem so manches Visual Statement das Nachdenken geradezu verbietet. Aber man darf sich da nicht täuschen lassen: Das ist purer Eigennutz, denn je weniger man nachdenkt, desto größer ist die Chance, dass man sinnentleerten Bullshit teilt. Dahinter steckt ein evil masterplan der Visual-Statement-, Postkarten- und Kalenderindustrie. 

Denkt man aber trotzdem mal nach, wird die Antwort in den meisten Fällen dann ebenso persönlich wie komplex ausfallen, so dass man gleich darauf verzichten kann, das  Ganze zu posten und den Zeitgenoss*innen auf die Nerven zu gehen. 

Eigentlich sind wir aber ein bisschen vom eigentlichen Thema abgekommen. Mal zu den Fakten: Die statistische durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt derzeit bei etwa 80 Jahren.1.

Also sind uns ernsthaft 80 Jahre zu wenig? Was wohl die Menschen im Kongo dazu sagen würden, wo die durchschnittliche Lebenserwartung nur bei gut 60 Jahren liegt?2 Ist das nicht ein klassisches First-World-Problem? 

Und was hätten die Menschen der Antike dazu gesagt? Dass die Lebenserwartung damals deutlich niedriger lag, liegt auf der Hand. Die hätten Grund gehabt, sich zu beschweren! Interessanterweise haben sie das aber nicht. Na ja, zumindest nicht alle. 

Der Spruch „Das Leben ist kurz.“ stammt zunächst mal selbst auch aus der Antike. Er wird dem griechischen Philosophen und Arzt Hippokrates zugeschrieben.3 Und obwohl er auch in der Antike schon recht geläufig war, blieb er nicht ganz ohne Widerspruch. 

Einer, der widersprochen hat, war Lucius Annaeus Seneca. Den kennt man heute fast gar nicht mehr, obwohl seine Werke – was irgendwie paradox ist – immer noch etliche Leser*innen erreichen. Man findet sie in fast jeder gut sortieren Buchhandlung in der Restebox, draußen vor dem Eingang, zwischen den Mängelexemplaren von „50 Shades of Grey“ für 2,50 € und den Lebensratgebern.

Wie ein Philosoph in die Restekiste kommt 

Das ist natürlich etwas traurig, wenn man bedenkt, dass Seneca einer der wirkmächtigsten römischen Philosophen war. Es erklärt sich aber, wenn man sein philosophisches Werk ein bisschen genauer unter die Lupe nimmt. Er betreibt, wenn man es etwas despektierlich ausdrücken will, „Küchenphilosophie“. Möchte man es netter ausdrücken (und auch angemessener), dann handelt es sich bei seinen Werken um Texte, die die Menschen und ihren Alltag ins Zentrum rücken. Seneca hat Werke darüber verfasst, wie man Trauer bewältigt. Er hat sich ellenlang darüber ausgelassen, was eigentlich Zorn ist und wie man ihn in den Griff bekommt. Und dann gibt es seine zahllosen Briefe, in denen er seinem jeweiligen Schreibpartner anhand konkreter Alltagssituationen Tipps, Hinweise und Ratschläge für das eigene Leben gibt.  

Lucius Annaeus Seneca gilt als einer der wirkmächstigsten römischen Philosophen. Diese Statue von ihm steht in seiner Heimatstadt Corduba in Spanien. Foto: PRA, CC BY SA 3.0

Damit erklärt sich auch, warum seine Werke für uns bis heute ziemlich gut zugänglich sind. Auch jemand, der sonst mit der Antike nichts am Hut hat, findet sich relativ leicht in Senecas Gedankenwelt zurecht. 

Und damit erklärt sich außerdem auch das Schicksal in der Grabbelkiste vor dem Buchladen. Denn wenn ein Werk „Über die Kürze des Lebens“ heißt, dann passt es eben irgendwie gut neben Bücher wie „20 Wege zum Glück“, „Selbstvertrauen in 5 Schritten“  und „Das  Uschi-Prinzip“. 

Das wird Seneca nicht gerecht, denn er war als äußerst gebildeter Mann seiner Zeit sehr vertraut mit den Hohen Weihen der antiken Philosophie und den Denkmodellen der stoischen Schule, die er vertrat. Aber er hatte sich (sicherlich nicht unbewusst) dafür entschieden, seinen Zeitgenoss*innen die Philosophie zugänglich zu machen. Er theoretisierte nicht über den Kosmos oder darüber, welche Ursubstanz allem Leben zugrunde liege. Er fragte: „Wie wird man als Mensch glücklich?“ Und zwar ganz praktisch im Alltag. 

Das Leben ist überhaupt nicht kurz.

Übrigens geht es um ebendieses Werk, das gerade erwähnt wurde: Die Kürze des Lebens. Oder lateinisch: De Brevitate Vitae. Auch Seneca stolperte wohl im Alltag seiner Mitmenschen über den andauernd zitierten Spruch des Hippokrates. Und er fühlte sich genötigt, uns hierzu auch seine Gedanken mitzuteilen. Wenn man seinen Text so liest, dann bekommt man das Gefühl, dass ihm dieser Spruch ziemlich auf die Nerven gegangen sein muss. Aber das ist bei Seneca nicht ungewöhnlich. Alle seine Werke sind in einer ziemlich nachdrücklichen Sprache verfasst, und er formuliert seine Gedanken gerne schon mal etwas drastisch. 

Ich musste für meine Examensprüfung alle seine 10 sogenannten „Dialoge“ lesen. Danach hatte ich den Eindruck, der Mann war einfach dauer-angepisst auf alles und jede*n. Was zur Folge hat, dass man irgendwann selber angepisst ist – auf ihn. Aber man muss ja vielleicht nicht gerade 10 seiner Werke am Stück hintereinander weg lesen. Kleinere Dosen sind da durchaus empfehlenswert.

Aber ich komme ab: Er beginnt mit einem provozierenden Statement. Denn seiner Meinung nach ist das Leben überhaupt nicht zu kurz. Wir nutzen es nur alle falsch.4

Auch das ist wieder typisch Seneca: Er schreckt nicht davor zurück, seinen Leser*innen die eigenen Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben. Natürlich tut er das nicht direkt. Er sagt nicht: „Ihr seid alle Scheiße.“ Er beschreibt Leute, die „so und so sind“ und „das und das tun“. Und dann exerziert er genüsslich durch, warum und wieso es falsch ist „so und so zu sein“ oder „das und das zu tun“. Natürlich findet man sich selbst als Leser*in darin ziemlich schnell wieder. Elegant umschifft Seneca so den direkten Vorwurf an uns alle. Gut, über die Eleganz dieser Vorgehensweise kann man streiten. Aber immerhin, der Wille zählt. 

Typ 1: Workaholics 

Jedenfalls beschreibt Seneca in der Folge Leute, die „so und so sind“. Da gibt es die einen, die völlig im geschäftigen Treiben der Politik aufgehen und sich aufreiben.5 Würde man das in unsere Zeit transponieren, würde man hier wohl das Klischee eines Managers sehen. Man würde heute im Jahr 2020 – um das Bild zu vervollständigen – noch dazuschreiben, dass er um die 50 Jahre alt, weiß, heterosexuell und  cis ist. Vielleicht ist er aber auch über 70, orange und regiert die mächtigste Nation der Erde. 

Das Gefühl, überarbeitet und gestresst zu sein, kennen wir alle. Doch manchen Menschen fällt es schwer, ihre Work-/Life-Balance einzuhalten. Foto: freepix.com

Was machen diese Menschen nach Senecas Meinung falsch? Seneca sagt uns: „Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir. Der Rest ist kein Leben, sondern einfach nur Zeit, die wir verbringen.“6 Die Kernfrage lautet also: Wie definiert man überhaupt Lebenszeit? Wenn man sich mal darauf einlässt, sich darüber genauer Gedanken zu machen, kann das ziemlich schmerzhaft werden.

Die Menschen, die Seneca uns zunächst beschreibt, reiben sich ständig nach den Wünschen und Forderungen anderer auf. Sie werden von ihnen geradezu beansprucht.7 Das ist einer der Kernbegriffe dieses ganzen Abschnitts von Senecas Werks. Römische Politiker, und um die geht es ja zunächst, werden dauernd von ihren Klienten belagert, müssen ihren Amtsgeschäften nachgehen, Prozesse führen, Intrigen schmieden, ihre Macht absichern. Und wozu? Was bringt einem ein solches Leben für einen selbst? 

Die Übertragung auf moderne Verhältnisse fällt nicht schwer. Man kann es noch etwas weiter fassen als sich dabei nur auf die eben erwähnten Manager zu beziehen. Was hat man persönlich davon, wenn man sich im Job und in der Karriere aufreibt? Die Frage stellt sich auch heute oft. Und nicht selten ist es für uns heute genauso schwierig oder sogar unangenehm, diese Frage ehrlich zu beantworten. Übrigens kannte auch Seneca schon die Leute, die behaupteten, alles auf die Zeit verschieben zu wollen, wenn man erst mal in Rente sei.8 „Wie spät ist es, erst dann mit dem Leben zu beginnen, wenn man es beenden muss!“, entgegnet er.8

Er wundert sich auch darüber, wie geizig Menschen mit dem eigenen Vermögen sein können, wie lax sie dagegen mit ihrer Zeit umgehen. Seine Forderung: „vindica te tibi“ – „Beanspruche dich für dich selbst!“

Annua, congiaria homines carissime accipiunt et in is aut laborem aut operam aut diligentiam suam locant. Nemo aestimat tempus. Utuntur illo laxius quasi gratuito. 

Ein Jahresgehalt oder Geldspenden nimmt man gern an und investiert dafür Arbeitskraft, Mühe und Sorgfalt. Niemand aber taxiert die Zeit. Man nutzt sie allzu achtlos, als wäre sie umsonst.

De Brevitate 8,2

Das sind für uns alles nachvollziehbare Gedankengänge. Und fremd sind sie uns auch nicht. Es gibt ja auch heute viele Menschen, die sich über genau diese Frage intensiv Gedanken machen: „Was erwarte ich von meinem Leben? Ab wann wird ein Job zum Selbstzweck und will ich das überhaupt?“

Typ 2: Genießer 

Andere sehen ihr Seelenheil nur dann gewahrt, wenn sie möglichst oft in Urlaub fahren und „die Seele baumeln lassen können“. Dass Vorstellung und Wirklichkeit meist gewaltig auseinanderklaffen, blenden sie gekonnt aus.  Foto: sarahbernier3140/pixabay

Aber dann gibt es da noch die zweite Gruppe von Leuten, die in Senecas Auflistung etwas unerwartet um die Ecke kommen: Die Genießer. Das sind Personen, die Genüssen verfallen sind und sich permanent etwas gönnen wollen.10 Sie arbeiten nur so viel wie nötig und lassen sich lieber volllaufen. „Wenn man es sich leisten kann,“ würden vielleicht heute manche sagen, „dann  spricht doch nichts dagegen.“ Auch wenn es Neid und Missgunst erzeugt, wenn sich jemand ein Leben auf den griechischen Inseln leisten kann – an sich würden es wohl viele genauso machen, wenn sie die Möglichkeit hätten. 

Allerdings sieht Seneca in einem genießerischen Lebenswandel ebenfalls kein Für-sich-selbst-Sein. Denn auch die Genusssüchtigen sind nicht frei von Zwängen. Da wären zum einen die sozialen Zwänge, denn wenn man nur noch mit seinen Freund*innen abhängt, wird aus dem Vergnügen sehr schnell eine Pflicht. Letztlich ist alles dem Drang nach Vergnügen untergeordnet. Auch das ist eine ziemlich allgemein-menschliche Erfahrung, die wir heute noch kennen, aber uns vielleicht eher selten bewusst machen. Natürlich sind soziale Kontakte grundsätzlich etwas Gutes. Es geht Seneca auch sicherlich nicht darum, das menschliche Miteinander einzuschränken. Er meint sinnentleerte Gelage, die man nicht primär wegen der Menschen aufsucht, sondern weil man einfach fressen und saufen will. Würde Seneca heute leben, hätte er vielleicht ein anderes Beispiel gewählt, das den Gedanken deutlicher werden lässt. 

Wir alle kennen Personen, die gefühlt fünfmal im Jahr in Urlaub fahren, um abzuschalten/einfach mal rauszukommen/das Leben zu genießen. Nichts gegen einen Urlaub, aber man kann sich schon fragen, ab welchem Punkt das Ganze eigentlich mehr Stress erzeugt, als dass es für Entspannung sorgt. Aber das ist eine Frage, die jede*r für sich individuell beantworten muss. Seneca aber meint das unreflektierte Genießen um des Genießens willen. Und die Tatsache, dass manche Personen gar nicht mehr hinterfragen, ob sie das, was sie gerade tun, überhaupt wirklich noch genießen oder ob sie damit eher einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung entsprechen. Immerhin muss man doch mindestens einmal im Jahr in Urlaub fahren, oder? 

Non est itaque quod quemquam propter canos aut rugas putes diu vixisse: Non ille diu vixit, sed diu fuit. 

Es gibt keinen Grund zu sagen, dass jemand mit grauen Haaren und Falten schon lange lebt. Er lebt nicht lange, er ist einfach nur schon lange da. 

De Brevitate Vitae 7,10

Vindica te tibi!

Aber was möchte Seneca dann nun von uns? Arbeiten dürfen wird nicht, das kann man verstehen. Aber hemmungslos genießen darf man auch nicht. Und selbst wenn man beides kombiniert und versucht, beiden Bereichen im eigenen Leben gleich viel Raum einzuräumen, zählt das nicht. Denn beides ist vergeudete Lebenszeit, egal, wie man sie aufteilt. 

Dann kann die Antwort doch eigentlich nur noch lauten, dass man einfach am besten nichts tut. Vielleicht geht man auch einem obszönen Hobby nach. Zum Beispiel Stickbilder anfertigen. Oder, um bei einem von Senecas Beispielen zu bleiben: Korinthische Vasen sammeln. Aber auch das erkennt Seneca nicht an.11 Dass das nicht weniger verschwendete Zeit wäre, leuchtet irgendwo ein. Die Lösung besteht in der schon zu Beginn von Seneca ausgegebenen Losung: vindica te tibi – Beanspruche dich für dich selbst! Das bedeutet: Beschäftige dich mit dir selbst!

Das soll nun kein Aufruf zu massenhafter Selbstbefriedigung sein, sondern dazu, einmal (oder gerne öfter) in aller Ruhe nachzudenken – über sich selbst, über Wünsche und Ziele, das eigene Verhalten und die Welt im Allgemeinen. 

Für einen solchen Vorgang hat die Antike den schönen Ausdruck „philosophieren“ geprägt. Ja tatsächlich, Seneca erkennt nur das Philosophieren als einzig sinnvolle Betätigung und Nutzung der eigenen Lebenszeit an.12 Da fühlt man sich nun doch ein kleines bisschen verarscht, oder? 

Um das zu verstehen, muss man aber ein wenig die Patina abkratzen, die der Ausdruck „philosophieren“ über die Jahrtausende angesetzt hat. Ein*e Philosoph*in stellen wir uns als alten Mann mit Rauschebart vor. Ja, auch wenn sie weiblich ist. Auch weibliche Philosophinnen haben einen langen, weißen Bart und eine Glatze. Das Bild ist so wirkmächtig, dass es über alle Geschlechtergrenzen hinweg wirkt. Und ein*e solche Philosoph*in grübelt über das Wesen des Kosmos, über den Sinn des Lebens, Kommunikationstheorie, Gender studies und wer-weiß-was-alles nach. Und am Ende sind Philosoph*innen so zerstreut, dass sie aus Versehen in einen Brunnen fallen und sterben. 

Das ist aber genau das Bild, das Seneca nicht vor Augen hatte. Denn, wir erinnern uns: Ihm war es wichtig, im Alltag zu bleiben und die Praxis in den Blick zu nehmen. Er möchte uns schlicht dazu bringen, mehr über uns nachzudenken. 

Werbung mit Tiefgang

Damit schließt sich übrigens der Bogen zur Intention des Schrift „De Brevitate Vitae“. Seneca hat sie nicht einfach aus Lust und Laune verfasst. Gerichtet ist sie an einen kaum bekannten jungen Politiker namens Paulinus. Ihn spricht Seneca zu Beginn an und widmet ihm die folgenden Ausführungen.13

Es wird ziemlich schnell deutlich, wie sehr er dem armen Paulinus das Politikerleben madig machen will. Er will ihn gewissermaßen abwerben und für die Philosophie gewinnen. Nun hat Seneca die Schrift aber nicht nur an Paulinus geschickt, sonst hätte wir sie sicher heute nicht mehr. Er hat sie auch veröffentlicht und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Und damit hat das Werk natürlich einen zweiten Adressat*innenkreis. Aber die Intention bleibt dieselbe: Es handelt sich um eine Werbeschrift für die Philosophie, eine – wie wir Philolog*innen sagen – „protreptische Schrift“. 

So erklärt sich auch, dass Seneca nirgendwo Werbung konkret für seine Philosophenschule macht. Er war Stoiker und hätte den jungen Paulinus sicher gern gleich für seine Mannschaft rekrutiert. Aber im ersten Schritt war es Seneca nur wichtig, dass er (um in diesem Bild zu bleiben) überhaupt für eine Mannschaft spielt. 

Was bleibt?

Wir sind natürlich lange darüber hinweg, alle Lebensweisheiten aus der Antike mit Gold aufzuwiegen und uns kritiklos danach zu richten. Sofern man das überhaupt jemals getan hat. Man kann Senecas Thesen allesamt hinterfragen, und bei dem großen zeitlichen und auch kulturellen Abstand sollte man das auch unbedingt tun. 

Immerhin aber legt er den Finger in einige Wunden, die man auch als moderner Mensch noch kennt. Dabei ist die Frage nach der Work-Life-Balance eine, für die man nicht unbedingt die Antike bemühen muss, auch wenn Seneca einige sehr griffige und plastische Bilder und Formulierungen wählt, um seine Gedankengänge zu illustrieren. Die kann man gut klauen. Und mit einem schönen Hintergrundbild bei Whatsapp posten. 

Während wir aber heute oft bei der Frage stehen bleiben, in welchem Verhältnis Life und Work stehen sollen, treibt Seneca diese Frage noch einen Schritt weiter: Was ist denn eigentlich Life bzw. was bedeutet es wirklich? Und inwiefern ist es kein richtiges Life, wenn es nur aus Freizeitstress besteht?

Die Antworten sind natürlich individuell. Und kaum jemand wird Senecas Antworten uneingeschränkt zustimmen. Aber jetzt kommt die verblüffende Erkenntnis: Indem man sich damit auseinandersetzt, hat Seneca das erreicht, was er eigentlich will: Man fängt an nachzudenken, oder eben in Senecas Worten: zu philosophieren. Das ist ebenso gemein wie grandios. In dem Moment, da man anfängt, Seneca zu widersprechen, hat er schon gewonnen. Und insofern hat uns seine kleine Schrift „Der Brevitate Vitae“ vielleicht auch heute noch was zu sagen. 

Zumal unser heutiges Pendant dazu größtenteils sinnentleerte Statusbildchen mit Sonnenuntergang sind. Es darf auch gerne mal ein Strand im Abendrot sein oder ein einsamer Baum auf einem Felsen. Wolken, von oben aus dem Flugzeug fotografiert, sind auch ein Klassiker. Vielleicht hat Seneca Recht und wir sollten uns dringend mal mehr Mühe geben und wieder anfangen zu philosophieren. Deswegen soll er auch hier das letzte Wort haben:

Maxima porro vitae iactura dilatio est: Illa primum quemque extrahit diem, illa eripit praesentia dum ulteriora promittit. Maximum vivendi impedimentum est expectatio, quae pendet ex crastino, perdit hodiernum. Quod in manu fortunae positum est, disponis, quod in tua, dimittis. Quo spectas? Quo te extendis? Omnia quae ventura sunt, in incerto iacent: Protinus vive!

Der größte Verlust für das Leben ist außerdem das Aufschieben: Es nimmt uns einen Tag nach dem anderen. Es entreißt uns das Naheliegende, während es Entferntes verspricht. Das größte Hindernis für das Leben ist die Erwartung, die am Morgen hängt und das Heute verschwendet. Du planst, was in der Hand des Schicksals liegt. Was aber in deiner Hand liegt, das lässt du dir entgehen. Wohin richtest du deinen Blick? Wonach streckst du deine Hand aus? Alles Zukünftige ist ungewiss: Lebe jetzt!

De Brevitate Vitae 9,1
  1. Genaueres beim Statistischen Bundesamt: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html
  2. http://data.un.org/Data.aspx?q=life+expectancy&d=PopDiv&f=variableID:68
  3. Hippokrates, Aphorismen 1,1
  4. Seneca, De Brevitate Vitae 1,1
  5. De Brevitate 2,3-6,9
  6. De Brevitate 2,2
  7. De Brevitate 2,4
  8. De Brevitate 3,5
  9. De Brevitate 3,5
  10. De Brevitate 7,1-2
  11. De Brevitate 12,2
  12. De Brevitate 14,1
  13. De Brevitate 1,1

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