Wie funktionieren eigentlich Hieroglyphen?

Man muss nicht nach Ägypten fahren, um sich die oftmals rätselhaft scheinenden Artefakte aus dem Alten Ägypten anzuschauen. Viele europäische Museen stellen Funde aus dem Land am Nil aus. Und viele von ihnen sind über und über mit Hieroglyphen bedeckt. Es scheint fast so, als hätten die Ägypter*innen uns viel zu sagen gehabt. Da wünscht man sich doch schon mal, man könnte die Zeichen auch lesen. 

Um es direkt vorweg zu nehmen: So rätselhaft und mystisch wie immer alle tun, sind die Hieroglyphen gar nicht. Chinesisch zu lernen, ist zum Beispiel deutlich schwerer. Wenn man das System einmal verstanden hat, ist Altägyptisch gar nicht so kompliziert. Wirklich.

WR DS LST ST DF

Damit sind wir auch schon bei der Frage, was denn das System eigentlich ist. Wie wir bereits mehrfach in unseren Posts erwähnt haben, werden in allen altägyptischen Schriften (neben den Hieroglyphen gibt es da noch ein paar andere, aber die ignorieren wir im Folgenden einfach mal) nur Konsonanten geschrieben. 

Das ist sehr praktisch, vor allem für eine Sprache, in der sich Konsonanten nicht willkürlich ändern, wenn man die grammatische Form ändert. Dass aus „ich gehe“ mit dem Konsonantenbestand gh in der Vergangenheit „ich ging“ mit dem Konsonantenbestand gng wird, passiert im Ägyptischen einfach nicht. Du gehst, sie gingen, Gang, wir werden gegangen sein – anders als im Deutschen habe ich im Ägyptischen eine realistische Chance die Grundbedeutung des Wortes nur anhand der Konsonanten zu erkennen.

Und das hat einen großen Vorteil. Die Hieroglyphenschrift ist eine der ältesten der Welt. Ganz am Anfang waren die Hieroglyphen vermutlich tatsächlich eine reine Bilderschrift, d. h. ein gemalter Arm bedeutete „Arm“, ein gemaltes Haus bedeutete „Haus“ usw. Wenn man das immer so durchgezogen hätte, hätte man irgendwann erstens eine unüberschaubare Anzahl von Zeichen gehabt und zweitens ein Problem mit abstrakten oder komplizierteren Dingen. Ihr könnt euch ja gerne mal ein Zeichen für „vergessen“, würdevoll“ oder „Einkommenssteuererklärung“ ausdenken, das jede*r auf den ersten Blick erkennt und das man mit keinem anderen Zeichen verwechseln kann.

Heiße Hasen

Hier kommt jetzt die Sache mit den Konsonanten wieder ins Spiel. Wenn man doch schon so ein schönes und eindeutig zu erkennendes Zeichen für „Haus“ hatte, konnte man es auch gleich für alle anderen Wörter mit dem Konsonantenbestand hs verwenden, „Hase“ zum Beispiel oder „Hose“ und vielleicht auch noch für „heiß“.

Gut, „Hase“ und „heiß“ hätte man vielleicht auch mit einem eigenen Zeichen darstellen können und Hosen haben die Ägypter*innen nicht getragen. Und überhaupt wenn man alles mit dem gleichen Zeichen schreibt, woher soll man dann wissen, was gemeint ist? Nehmen wir dazu noch ein Beispiel:

…und Katzenkotze

Katzen gab es in Ägypten auf jeden Fall schon. Also nehmen wir einfach mal an, es hätte ein Zeichen für „Katze“ gegeben, das aussah wie eine Katze. Wenn mit diesem Zeichen jetzt auch wirklich „Katze“ und nicht ein anderes Wort mit den Konsonanten ktz gemeint ist, setzt man im Ägyptischen einen Strich darunter. Also ein senkrechter Strich unter dem Wort bedeutet oft: Das Dargestellte ist auch gemeint. Eine Katze mit Strich drunter bedeutet „Katze“.1 

Nun könnte es aber ja auch noch andere Wörter mit den Konsonanten ktz geben. „Kotze“ zum Beispiel. Dafür würden wir jetzt auch wieder das Katzen-Zeichen schreiben, weil ja dieselben Konsonanten vorliegen, aber wir müssten klar machen, dass hier nicht „Katze“, sondern „Kotze“ gemeint ist. Also kein Strich unter dem Wort. An die Stelle des Strichs würden wir jetzt ein anderes Zeichen unter das Wort setzen, das anzeigt, in welche Richtung das Ganze grob geht. Vielleicht einen Mann mit grüner Gesichtsfarbe. Die Ägypter*innen hätten an diese Stelle für etwas Schlechtes vermutlich entweder den Sperling (zoologisch nicht eindeutig als solcher identifiziert) oder das „schlechte Paket“ gesetzt, von dem man leider nicht weiß, was es genau darstellen soll. Beide Zeichen stehen aber sehr oft hinter Wörtern, die etwas Schlechtes bedeuten. Eine aufgemalte Katze mit „schlechtem Paket“ würde also „Kotze“ bedeuten.

Das Ganze geht noch weiter. Denn ich könnte das Katzen-Zeichen auch für Wörter benutzen, in denen ktz nur ein Teil des Wortes ist, „Ketzer“ zum Beispiel. Dann würde ich die Katze schreiben und dann fehlt noch ein Zeichen für „r“. Im Ägyptischen ist das Zeichen für „r“ der Mund. Am Ende käme wieder ein Deutzeichen, vielleicht wieder das „schlechte Paket“ oder ein Mann oder beides. Im Ägyptischen kann ich aus dem „Ketzer“ übrigens auch ganz einfach eine „Ketzerin“ machen, indem ich den Mann am Wortende durch eine Frau austausche. So einfach kann gendern sein. Aber bleiben wir mal bei dem Ketzer: Ich schreibe also Katze (ktz) + Mund (r) + schlechtes Paket (Deutzeichen) und/oder Mann (Deutzeichen).

Eine Sprache voller Komplemente

Auf diese Weise kann man den Zeichenbedarf wirklich stark einschränken. Mit den 300 bis 600 wichtigsten Zeichen kommt man in der ägyptischen Schrift ganz gut zurecht. Für Leute, die an Alphabetsschriften gewöhnt sind, ist das natürlich viel. Aber angesichts all der Worte, die es so gibt, ist das doch schon ökonomisch.

Die Ägypter*innen scheinen an der ein oder anderen Stelle aber auch schon mal mit ihren Zeichen durcheinander gekommen zu sein. Stand das Katzen-Zeichen jetzt für ktz oder für gtz oder für kzt oder vielleicht für ktr wie in „Kater“? Dafür hat man praktische Lesehilfen eingeführt, die sogenannten Komplemente (mit e, nicht mit i). Complere bedeutet „auffüllen“ und genau das machen diese Zeichen auch. Es war zum Beispiel möglich hinter das Katzen-Zeichen noch einmal die Zeichen für „t“ (ein Brot) und „z“ (ein Türriegel) zu setzen. Dann konnte man sich beim Lesen erinnern, dass das Zeichen „Katze“ hieß und nicht „Kater“. Das gleiche hätte man auch am Wortanfang machen können mit einem Zeichen für „k“. Diese Unterstützung half dem Gedächtnis auf die Sprünge. Wenn man also irgendwo eine Katze (ktz) + Brot (t) + Türriegel (z) sah, stand dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ktztz, sondern einfach nur ktz. Das zusätzliche „t“ und „z“ waren nur eine visuelle Hilfe.

Da es im Alten Ägypten natürlich noch keine Rechtschreibung gab, war es auch nicht verpflichtend, wann und ob man diese Komplemente setzte. Hilfreich sind sie bei 300 bis 600 Zeichen aber durchaus, wenn man nicht immer jedes Zeichen direkt parat hat.

WERDASLIESTISTDOOF

Zwei Kuriositäten hat die ägyptische Schrift dann aber doch noch zu bieten. Die erste davon ist, dass es weder eine Satz- noch eine Worttrennung gibt. Es wird alles aneinander geschrieben, ohne einen Freiraum und ohne so etwas wie Punkt und Komma. Das ist für moderne Menschen dann doch eher hinderlich und eine krasse Gewöhnungssache. 

Damit steht die Hieroglyphenschrift allerdings nicht alleine da. Auch Latein und Griechisch wurden in der Antike ohne Wort- und Satztrennung geschrieben. Fortschrittlich war in diesem Sinne übrigens die meroitische Schrift aus dem heutigen Sudan, die schon um das Jahr 200 v. Chr. ein Zeichen für Worttrennung aufwies. Bis sich diese Idee in Europa durchsetzte, dauerte es noch ein paar Jahrhunderte, etwa ab dem 9. Jahrhundert findet man sie relativ regelmäßig. Die ägyptische Hieroglyphenschrift aber wurde nie mit einer Trennung zwischen Wörtern geschrieben.

Auch daran kann man sich aber gewöhnen. Am Anfang wird man ziemlich viel herumrätseln, wo denn nun Wörter oder Sätze zu Ende sind, mit steigender Leseerfahrung wird aber auch das einfacher.

Die Göttinnen und Götter stehen an erster Stelle!

Die zweite Kuriosität macht das Lesen noch etwas gemeiner. Wenn man es gerade geschafft hat, Satzanfang und -ende ausfindig zu machen, kann es sein, dass man sich sehr über die Satzstellung wundert. Da verhält sich Ägyptisch ähnlich wie Deutsch: Die Satzstellung ist in Maßen variabel, alles darf man aber trotzdem nicht machen.

Das einzige, was Ägypter*innen aber entgegen aller grammatikalischen Regeln immer gemacht haben, ist  es, die Namen von Gottheiten an den Satzanfang zu packen. Die Göttinnen und Götter stehen an erster Stelle. Auch im Satz. Auch wenn sie da grammatikalisch nicht hingehören.

Ein Beispiel dafür ist der Königsname Merenptah. Dieser Name bedeutet „Geliebt von (dem Gott) Ptah“. Im Ägyptischen würde man den Namen des Gottes aber jetzt beim Schreiben an den Anfang setzen, also „Ptah geliebt von“ und das ergibt auf Ägyptisch grammatikalisch ebensowenig Sinn wie auf Deutsch. Hat man aber trotzdem gemacht. Aus Ehrfurchtsgründen.

Warum denn so kompliziert?

Klingt nun doch alles ein bisschen kompliziert. Warum haben die Ägypter*innen sich das Leben also nicht ein bisschen einfacher gemacht und zum Beispiel eine Alphabetsschrift verwendet. Das hätte doch eine Menge Ärger ersparen können.

Dazu zwei Dinge: Historisch betrachtet sind Alphabete neumodischer Kram. Die älteste bekannte Alphabetsschrift stammt aus Ugarit in Vorderasien und wurde etwa um 1400 vor Christus entwickelt. Okay, vielleicht nicht ganz so neumodischer Kram, aber die Ägypter*innen hatten zu diesem Zeitpunkt schon circa 1700 Jahre ein funktionierendes Schriftsystem, die Hieroglyphen eben. 

Wenn man sich nun überlegt, was es für Empörung in Deutschland ausgelöst hat, weil Leute „Schifffahrt“ nun bitte mit drei f schreiben sollten, weil es logischer und einfacher ist, möchte man sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn einige Ägypter*innen beschlossen hätten, auf einmal das Schriftsystem für alle komplett auf Alphabet umzustellen, weil es logischer und einfacher ist.

Überhaupt „für alle“, damit sind wir schon beim nächsten Punkt. Etwa 99% der Ägypter*innen konnten überhaupt nicht lesen und schreiben. Schreiben war ein Ding der Eliten: Beamte konnten schreiben, Priester und sicher auch mancher König, aber alle anderen eben nicht. Den paar Menschen, die lesen und schreiben konnten, war es durchaus zuzumuten, sich auch mit einem etwas komplizierteren Schriftsystem auseinanderzusetzen. 

Das Ganze bietet nämlich auch Raum für Kreativität. So schrieben ägyptische Priester in der Spätzeit unter den Ptolemaiern den Gott „Ptah“ zum Beispiel mit einem Zeichen für Himmel (pt), einem Zeichen für Erde (t3) und einem knienden Gott dazwischen (ḥḥ). Denkt man sich alle doppelten Konsonanten als Komplemente weg, ergibt sich daraus „Ptah“, der Gott, der in der ägyptischen Vorstellung zwischen Himmel und Erde ist. So eine Art von visueller Poesie ist mit einer Alphabetsschrift kaum möglich.

„Hieroglyphen“ nannten die griechischen Autoren die ägyptische Schrift. Das bedeutet so viel wie „heilige Zeichen“. Und auch die Ägypter*innen selbst sprachen von mdw.w ntr, als den „Worten der Götter“. Es ging hier also nicht um etwas praktisches, sondern um etwas heiliges. Und das darf dann auch schon mal etwas sperrig und unmodern sein. In heutigen Kirchen steht ja auch selten eine Stereoanlage, sondern meistens eine Orgel.

Die Sache mit dem Inhalt

Am Ende sei hier noch angemerkt, dass das größte Verstehenshindernis für uns meistens auch gar nicht die Schrift an sich ist, sondern der Inhalt, der sich dahinter verbirgt. Wir haben es mit dem Alten Ägypten mit 2000 bis 5000 Jahren zeitlicher Distanz und mit einer Kultur zu tun, die unserer in weiten Teilen völlig fremd ist. Manche Sachen, wie Inventarlisten, sind relativ universell, so dass wir meistens verstehen können, was darauf steht. Andere Dinge aber, gerade aus dem religiösen Bereich, können wir zwar notdürftig übersetzen. Wir verstehen aber manchmal trotzdem nicht, was gemeint ist. 

Da hilft nur weitere Forschung, die Lebenswelt der alten Ägypter*innen zu erkunden, weitere Texte zur Entschlüsselung heranzuziehen und die Funde von modernen Archäolog*innen auszuwerten. So erschließen sich uns dann manche Dinge doch.

  1. Ich erzähle an der Stelle immer ganz gerne die Geschichte von meiner ersten Ägyptisch-Klausur an der Uni, in der ich etwas verwirrt war, weil ich im Text einen Penis mit einem Strich darunter vorgefunden habe. Es klärte sich alles auf, der Strich war ein Füllstrich, um freien Platz auf dem Stein aus ästhetischen Gründen zu füllen. Solche Striche gibt es nämlich auch noch. Also im Text stand nicht „Penis“, sondern das Wort bedeutete schlicht „vor“. Aber Füllstriche lassen wir im Folgenden auch mal außen vor.

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