Im Zuge der Bundestagswahl tauchte immer mal wieder ein Begriff auf, von dem die meisten wahrscheinlich zum ersten Mal gehört haben: „Gerontokratie“, also eine Herrschaft der Alten. Deutschland sei eine Gerontokratie geworden, in der die Alten entscheiden. Bei einem Blick auf das Alter der Wähler*innen ist das richtig. Trotzdem bekommen Althistoriker*innen hier mal schnell Bauchschmerzen.
Diese Bauchschmerzen rühren daher, dass es in der Antike auch schon Gerontokratien gegeben hat, die auch genau so bezeichnet wurden, im Kern aber ganz anders organisiert waren. Deswegen werfen wir hier mal einen Blick auf die Frage „Leben wir in Deutschland in einer Gerontokratie?“
Wer ist überhaupt alt?
Ohne hier irgendwem persönlich zu nahe treten zu wollen, klären wir mal, wer überhaupt alt ist. Da wir uns gleich auch noch die Antike anschauen und damit wir nicht komplett Äpfel mit Birnen vergleichen, nehmen wir die antike Definition von „alt“ zur Hand: Alt ist, wer über 60 ist. Sowohl das lateinische Wort senex (alter Mann, Greis) als auch das griechische Wort geron (γέρων, ebenfalls „alter Mann“) meinen immer Leute, die über 60 sind. Für das griechische Wort wird sich weiter unten auch klären, warum das so ist.
Also, ihr dürft euch gerne alle weiterhin jung fühlen, auch wenn ihr über 60 seid. Aber nur anhand dieses Gefühls kann man eben keine statistischen Aussagen treffen.
Die Entscheidungsmacht der Alten in Deutschland
Bei der Bundestagswahl 2021 waren 38,2% der Wähler*innen über 60 Jahre alt. Das ist ein unfassbar hoher Anteil und im Vorfeld der Wahl auch bereits oft thematisiert worden. Aber nur noch mal zum Vergleich: Der Anteil aller Wähler*innen unter 40 betrug gerade einmal 28,7%.
Und es ist keineswegs nur ein Eindruck, dass die Alten in Deutschland bestimmen, wo es lang geht. Menschen unter 34 haben signifikant andere Parteien gewählt als Menschen über 60. Es schlägt sich aber im Gesamtergebnis kaum nieder, weil der Anteil dieser Wählergruppe vergleichsweise klein ist.
Der neue Bundestag dagegen wird im Schnitt „nur noch“ 47,5 Jahre alt sein. Vor allem Grüne und SPD haben viele junge Kandidat*innen ins Rennen geschickt, die sich erfolgreich durchsetzen konnten. Der Anteil von Mandatsträger*innen unter 30 und unter 40 im Bundestag ist so hoch wie noch nie. Wie sich das auswirken wird, sei mal dahin gestellt, aber es unterscheidet die derzeitige Bundesrepublik systematisch von der Antike. In den dortigen Gerontokratien konnte das Durchschnittsalter der entsprechenden Gremien gar nicht unter 60 liegen.
„Echte“ Gerontokratien in der Antike
Gerontokratien, auch unter diesem Namen, gab es in der Antike wie gesagt auch schon. Belegt sind sie z. B. in Kreta1, in Elis2, in Korinth im 4. Jahrhundert vor Christus3 und unter anderen Namen in Knidos4 und in Massalia, dem heutigen Marseille, das tatsächlich eine griechische Gründung war.5. Über all diese Staatssysteme lässt sich im Detail nicht so viel sagen. Aber sie alle haben ein Vorbild: nämlich das antike Sparta.
Für die Innenpolitik Spartas haben wir leider ein Quellenproblem. Das sei an der Stelle schon einmal vorweg genommen. Die antike Geschichtsschreibung interessierte sich nämlich eher für die Außenpolitik Spartas und seine Kriegszüge. Das heißt in manchen Punkten gibt es eine rege Forschungsdiskussion darüber, wer in Sparta nun wie mächtig war.
Die wichtigsten staatlichen Institutionen in Sparta waren die beiden Könige, die Ephoren, d. h. die fünf höchsten Beamten, die Volksversammlung und die Gerusia. Gerusia bedeutet „Ältestenrat“. Das Wort Senat bedeutet übrigens dasselbe. Trotzdem gab es einen krassen Unterschied zwischen römischem Senat und spartanischer Gerusia.
Die Gerusia hatte 30 Mitglieder, zwei davon waren die beiden Könige. Es bleiben also noch 28 Plätze übrig.6 Gewählt werden konnten in diese Gerusia aber grundsätzlich nur Männer über 60, die ein „untadeliges Vorleben“ vorweisen konnten.7 Was auch immer das im Einzelfall bedeutet haben mag. Wahrscheinlich eher guter Leumund als die Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses.
Gewählt wurde übrigens durch Akklamation, d. h. wer am lautesten bejubelt wurde, war gewählt. Das klingt sehr bizarr und schon Platon fand diese Wahlmethode „kindisch“.8 ich persönlich versuche mir auch gerade vorzustellen, wie die CDU beim nächsten Parteitag ihre*n neue*n Vorsitzende*n durch lautes Zurufen wählt. Scheint mir irgendwie kein besonders zeitgemäßes Verfahren mehr zu sein.
Was der Ältestenrat so alles entschied
Wenn man die Wahl erst einmal überstanden hatte, war man aber Mitglied der Gerusia für die restliche Lebenszeit. Es gab erst wieder einen freien Platz, wenn jemand starb. Auch davon waren einige Leute in der Antike, namentlich mal wieder Platon, nicht so angetan. Auch politische Ämter auf Lebenszeit inne zu haben, ist ein Konzept, das für die Gegenwart sehr befremdlich ist.
Laut Plutarch war die Gerusia die höchste Gewalt im spartanischen Stadtstaat.7. Ihre Mitglieder waren niemandem Rechenschaft schuldig. Auch das ist so ein Gedanke, den wir uns heute nicht mehr vorstellen können.
In der spartanischen Volksversammlung wurde nicht debattiert und es gab kein Antragsrecht für Bürger. Das heißt Beschlüsse mussten von der Volksversammlung zwar bestätigt oder abgelehnt werden, aber die Gerusia entschied über die Themen. Denn nur die Gerusia konnte etwa Gesetzesvorhaben und andere Beschlussvorlagen in die Volksversammlung einbringen. Spartanische Bürger, die Mitglieder der Volksversammlung, konnten das nicht. Die Alten entschieden also darüber, was überhaupt Themen waren, über die man mal abstimmen müsste. Hinzu kam, dass die Gerusia Beschlüsse der Volksversammlung auch wieder kippen konnte, wenn sie ihnen nicht passten.10
Jetzt haben wir in Deutschland nicht so viele Situationen, in denen etwas direkt vom Volk entschieden wird. Aber man stelle sich mal vor, der Bundestag hätte nach der letzten Wahl geschlossen gesagt, er erkenne das Ergebnis der Wahl (ohne weitere Begründung) nicht an und würde sich jetzt nicht auflösen. Das wäre in Deutschland wohl ein Umsturzversuch. In Sparta wäre so etwas ähnliches aber möglich gewesen.
Man darf an der Stelle natürlich nicht vergessen, dass die verschiedenen Institutionen darauf ausgelegt waren, einen Konsens zu finden. Wenn die Gerusia einen Antrag einbrachte und die Volksversammlung lehnte ihn ab und die Gerusia hätte die Abstimmung für ungültig erklärt und den ganzen Prozess genauso wiederholt, hätten sich ja immer nur alle gegenseitig blockiert. Konsens mit den Spartiaten war also schon das Ziel, mächtig war die Gerusia trotzdem.
Außerdem hatte die Gerusia auch noch die höchste Gerichtsbarkeit inne. Sie entschied in besonders schwerwiegenden Fällen, etwa wenn es um Mordprozesse, sonstige Verbrechen, auf die die Todesstrafe stand, oder den Entzug des Bürgerrechts ging. Sie hatte also auch dort wichtige Kontrollmöglichkeiten.
Kritik an dieser machtvollen Stellung der Gerusia gab es schon in der Antike. Vor allem Platon kritisiert das sehr hohe Eintrittsalter von 60 Jahren, um überhaupt für die Gerusia kandidieren zu können.8 Jüngere – und damit meine ich alle Menschen unter 60 – hatten in Sparta also schlicht so gut wie gar keine Möglichkeit ihre Themen in die Politik einzubringen.
Leben wir in einer Gerontokratie?
In Sparta verlor die Gerusia ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. langsam ihre Bedeutung. Auch das Wort „Gerontokratie“ verschwand damit erstmal in irgendwelchen Mottenkisten und wurde nur von Althistoriker*innen ab und an mal ausgepackt, wenn sie in ihren Papern damit angeben wollten, dass sie Griechisch können. Zur Bundestagswahl hat es nun ein mediales Revival erlebt: Leben wir also in einer Gerontokratie?
Da es hier ja um das Alter geht, lassen wir alle weiteren Themen, die man im Zusammenhang mit einer antiken Gerontokratie auch noch anbringen könnte, mal außer Acht, z. B. dass natürlich Frauen überhaupt gar keine Entscheidungsgewalt hatten, ebenso Fremde und Unfreie (die spartanischen Heloten). Ich fokussiere es für die Gegenwart also hier mal auf Menschen über 60 und nicht auf Männer über 60, weil ich mich ja hier mit dem Alter beschäftige.
Stellen wir uns also vor, im deutschen Bundestag könnten nur Menschen über 60 sitzen und er hätte ähnliche Kompetenzen wie die spartanische Gerusia, also z. B. den oft bemühten „Wählerwillen“ im schlimmsten Fall auch einfach komplett zu ignorieren. Was würde passieren, wenn Deutschland eine „echte“ Gerontokratie nach antikem Vorbild wäre?
This is (not) Sparta!
Es würde vermutlich noch stärker das passieren, was sich für überalternde Gesellschaften wie Deutschland bereits jetzt schon feststellen lässt: Während in Industrieländern mit einem weniger starken Ungleichgewicht zwischen alten und jungen Menschen die Ausgaben so gestaltet sind, dass sowohl ältere als auch jüngere profitieren, profitieren in Industriestaaten mit überdurchschnittlichen vielen alten Menschen vor allem die Alten. Das ist in Deutschland bereits jetzt der Fall.12 Wenn nun nur noch Menschen über 60 entscheiden würden, über welche Themen überhaupt debattiert wird, würde sich dieser Trend mit Sicherheit verstärken.
Auch Themen, die junge Menschen beschäftigen, wie zukunftssichere Arbeitsplätze und Digitalisierung sind nicht so sehr Themen der Alten.13 Trotzdem hat die Wahl gezeigt, dass sowohl ältere als auch jüngere auch gemeinsame Themen haben. Auch wenn Umwelt- und Klimaschutz definitiv ein Thema ist, das junge Menschen ins Blickfeld gerückt haben, ist er sowohl älteren als auch jüngeren Wähler*innen mittlerweile wichtig und ein Thema dieser Wahl gewesen.
Also, leben wir in einer Gerontokratie? Dem Wortsinn nach haben wir in gewisser Weise eine „Herrschaft der Alten“, weil die Demographie einfach zu ihren Gunsten ausfällt. Wir haben aber keine Gerontokratie im spartanischen Sinne, wo einfach Teile der Bevölkerung überhaupt keine Möglichkeit haben, ihre Themen einzubringen. Denn Sparta war eben auch wirklich keine Demokratie. Jüngere Menschen haben heute grundsätzlich eine Stimme und das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Teil des Problems ist auch, dass sie es vielleicht häufiger wahrnehmen sollten. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Der Anteil der Nichtwähler*innen ist bei den unter 30-jährigen am höchsten.
Wir haben also kein systematisches Problem, sondern ein demographisches. Wir überaltern einfach. Deshalb ist auch nicht das System an sich kritisch, sondern vielleicht einfach nur mal reformbedüftig. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Absenkung des Wahlalters auf 16, um das Problem wenigstens ein bisschen aufzufangen?
- Aristoteles, Politeia II 1272a, 35ff. ↩
- Aristoteles, Politeia VIII 1306a 15ff. ↩
- Diodor XVI 65 ↩
- Plutarch, Quaestiones Graecae 4 ↩
- Strabon, Geographika IV 179 ↩
- Plutarch, Lykurg 5 ↩
- Plutarch, Lykurg 26 ↩
- Platon, Politeia 1271a ↩
- Plutarch, Lykurg 26 ↩
- Plutarch, Lykurg 6 ↩
- Platon, Politeia 1271a ↩
- Sandra Brunsbach: Politische Parteien in Zeiten des demographischen Wandels – Reflexion der veränderten Altersstruktur in der Parteiprogrammatik. Wiesbaden 2018. ↩
- Auch hier gibt es natürlich Ausnahmen: Philipp Amthor (28) hat in einer hochpeinlichen „Gaming Night“ der Jungen Union eindrucksvoll bewiesen, dass Digitalisierung auch nicht sein Thema ist. ↩
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