Dass wir alle Individuen sind, darauf legen wir viel Wert. Man lebt schließlich nur einmal. Man hat nur dieses eine Leben, und das soll man genießen. Und dieser Blogpost zielt auch überhaupt nicht darauf ab, unser Streben nach Individualität in Frage zu stellen. Nur: Im alten Rom hätte man das etwas seltsam gefunden.
Das Wort „Individuum“ ist die sächliche Form des Adjektivs „individuus“. Und das bedeutet „unteilbar“. (Man denke an das Dividieren in der Mathematik.) Es taucht im klassischen Latein relativ selten auf, und dann auch eigentlich fast nur in einem sehr speziellen Zusammenhang: Es ist eine ziemlich wörtliche Übersetzung des griechischen Wörtchens ἄτομος (átomos). Und damit sind die kleinsten Teilchen gemeint, aus denen die Welt besteht, die eben unteilbar sind.
Gut, eigentlich muss man einem modernen Menschen wohl nicht mehr erklären, was ein Atom ist. Und ja, wir wissen heute alle, dass man Atome spalten kann, dass sie also nicht unteilbar sind. Aber in der Antike war dieser Umstand noch unbekannt.
Bekanntermaßen sind Atome ziemlich klein und mit bloßem Auge nicht zu erkennen. So kommt es, dass „individuus“ im Lateinischen auch „nichtig“ bzw. „Nichts“ bedeuten kann. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass wir heute stolz betonen, „ein Individuum“ zu sein, hätte man im alten Rom mindestens doch mit einem Stirnrunzeln quittiert.
Wie kommt es aber dann heute zu der modernen Bedeutung? Wir verstehen darunter ja Person, die sich ihrer selbst bewusst ist, sich von anderen abgrenzt, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse entwickelt und sie zu verwirklichen versucht.
Antwort: Um zwei Ecken. Zunächst ist der Begriff „Individuum“ biologisch und soziologisch zu verstehen. Biologisch gesehen bedeutet er: kleinste Einheit einer Kohorte von Lebewesen. Soziologisch im Grunde auch: kleinste Einheit der Gesellschaft oder einer Gruppe von Menschen.
Demnach ist ein Mensch (soziologisch oder biologisch betrachtet) nicht weiter teilbar. Das ist erst einmal eine ziemlich nüchterne Definition. Wissenschaft halt. Dass der Begriff aber auch im Alltag relevant wurde, das hat etwas mit den Diskussionen um verschiedene Gesellschaftsformen zu tun.
Hier hat man vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gern die individualistische Gesellschaft den kollektivistischen Gesellschaften gegenübergestellt. In einer individualistischen Gesellschaft kommt der persönlichen Freiheit der*des Einzelnen eine sehr große Bedeutung zu. In einer kollektivistischen Gesellschaft steht das Wohl der Allgemeinheit stärker im Zentrum und hat eine mitunter größere Bedeutung als das Glück einer Einzelperson.
Dabei sah man die westlichen Gesellschaften als individualistisch an, während im Osten die bösen kollektivistischen Gesellschaften waren, die ihren Bürger*innen keine oder nur sehr begrenzte persönlichen Freiheiten ermöglichten. Aber man sollte sich da nicht täuschen, denn auch wenn unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Schwerpunkte setzen – mit der Grundfrage sind sie alle gleichermaßen konfrontiert: Wie weit darf persönliche Freiheit gehen, wann ist das Allgemeinwohl wichtiger? Wo zieht man die Grenze?
Wie aktuell diese Frage gerade zur Zeit ist, braucht man an dieser Stelle wohl nicht mehr weiter erklären.
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