Ein Missverständnis
„Platonische Liebe“ ist ein Ausdruck, den wir auch heute noch kennen und oft benutzen. Und trotzdem würde sich ihr vermeintlicher Erfinder Platon vermutlich gründlich missverstanden fühlen, wenn er erführe, was wir heute unter seinem Namen als „platonische Liebe“ verkaufen. Denn eigentlich hatte er das doch gar nicht so gemeint…
Wir heute verstehen unter dem Begriff „platonische Liebe“ eine Liebe zwischen zwei Personen, in der es keine körperliche Anziehung gibt. Alle anderen Faktoren, die Liebe so ausmacht, sind aber vorhanden, wie z. B. Zuneigung, Vertrauen, Verbundenheit oder die Bereitschaft Krisen gemeinsam zu meistern und an einer Beziehung zu arbeiten. Das sollen nur Beispiel sein. Ich möchte hier keinen Anspruch darauf erheben, eine vollständige Liste aller Faktoren aufgestellt zu haben, die zu Liebe gehören.
Platonische Liebe im 21. Jahrhundert
Alle diese Dinge sind also vorhanden, nur eben die körperliche Komponente in Form von Sex nicht. Man könnte daher sagen, die Liebe, die Eltern für ihre Kinder empfinden, wäre eine platonische Liebe. Oder die Liebe unter Geschwistern. Für manche Menschen ist das eine Form der platonischen Liebe.
Andere würden noch einen Schritt weiter gehen und solche verwandtschaftlichen Beziehungen von platonischer Liebe ausnehmen und der Definition noch den nicht unwesentlichen Bestandteil hinzufügen, dass es sich um zwei Menschen handeln muss, von denen man erwarten würde, dass es zwischen ihnen so eine sexuelle Anziehung gibt. Ein heterosexueller Mann und eine heterosexuelle Frau zum Beispiel. Wenn diese beiden eine innige, rein geistige Beziehung miteinander führen, würde man von platonischer Liebe sprechen. Das gleiche gilt natürlich auch für homo- oder pansexuelle Menschen entsprechend mit demselben oder allen Geschlechtern.
Verwandtschaftliche Beziehungen würden demnach aber nicht unter „platonische Liebe“ fallen, weil man da von Anfang an nicht erwarten würde, dass es diese sexuelle Anziehung gibt.
Zusammengefasst sind wir hier also bei dem altbekannten Thema: Können ein heterosexueller Mann und eine heterosexuelle Frau sich lieben, ohne dass sie Sex miteinander wollen? Oder eben zwei lesbische Frauen etc.
Was Platon zur platonischen Liebe sagt
Platon hatte das alles etwas anders gemeint. Denn für ihn spielten körperliche Anziehung und Sexualität sehr wohl eine Rolle in der Liebe. Im Laufe seines Philosophendaseins hat er sich mit einer ganzen Bandbreite von Themen befasst: mit Erkenntnis, dem idealen Staat, Gerechtigkeit und eben auch mit der Liebe. Der Liebe hat Platon sogar ein eigenes Werk gewidmet, nämlich den Dialog „Symposion“. Darin diskutieren verschiedene intellektuelle Größen Athens, unter anderem Platons Lehrer Sokrates bei einem Gastmahl (Symposion) darüber, was denn die Liebe sei. Ganz korrekt ist die Wiedergabe nicht, denn eigentlich diskutieren sie über den „Eros“, wie es im griechischen Text heißt.
Das stellt uns im Deutschen mal wieder vor ein kleines Übersetzungsproblem. Denn „Eros“ heißt natürlich „Liebe“. Es geht dabei aber auch noch um viel stärkere Gefühle, „Eros“ hat auch die Komponenten „Begehren“ und „Verlangen“. Das sollte man im Hinterkopf behalten und wenn ich im Folgenden nicht immer nur von „Liebe“, sondern auch mal von „Verlangen“ spreche, dann liegt das genau an diesem Übersetzungsproblem. Gemeint ist immer das griechische Wort „Eros“. Von diesem Wort leitet sich übrigens auch unser Wort „Erotik“ ab. Man ahnt schon, dass es hier also sehr wohl auch um etwas Körperliches gehen wird.
Die drei Stufen der Liebe
„Die drei Stufen der Liebe“ klingt zwar wie der Titel eines mittelmäßigen Youtube-Videos, fasst aber Platons Gedanken tatsächlich ganz gut zusammen. Viele von Platons philosophischen Überlegungen fußen auf Stufenmodellen und so kann man für ihn auch die Liebe in verschiedenen Stufen erreichen.
Allen Stufen zugrunde liegt ein Dreiklang aus Liebe, Schönheit und dem Göttlichen. Und das funktioniert so: Menschen lieben bzw. begehren Dinge oder andere Menschen, weil sie schön sind. Dass es dieses Begehren gibt, liegt daran, dass sich in der Schönheit immer das Göttliche zeigt. Denn das Göttliche ist vollkommen, also auch vollkommen schön. Alles, was in unserer Welt schön ist, zeigt also, dass etwas Göttliches in ihm ist, ein ganz kleiner Teil davon. Und deshalb lieben Menschen schöne Dinge oder Personen und wollen sie haben.
Die Schönheit des Körpers
Das ist erst einmal die Grundannahme des Stufenmodells, das jetzt ins Spiel kommt. Auf der ersten, der untersten Stufe lieben Menschen andere Menschen, die körperlich schön sind. Platon behauptet, dass das vor allem bei Jugendlichen der Fall sei. Ich wäre mir da an seiner Stelle nicht so sicher. Wie dem auch sei, wird jede*r von uns das Gefühl kennen, dass man eine Person erst einmal anziehend findet, weil sie gut aussieht. In der Regel weiß man über diese Person ja auch erstmal nichts anderes und kann sie nur aufgrund von Äußerlichkeiten einschätzen.
Demnach ist für Platon auch das Verlangen, das sich aus dieser körperlichen Anziehung ergibt, ein körperliches. Man findet den Körper der anderen Person schön und will ihn deshalb berühren, rummachen oder Sex. Also ja, Platon spricht diese körperliche Liebe sehr deutlich an. Das nur schon mal für den Hinterkopf.
Die Schönheit des Charakters
Auf der zweiten Stufe kommt dann die auch heute noch oft beschworene Schönheit des Charakters. Und das ist hier tatsächlich als eine Stufe zu verstehen, die man nehmen muss, als Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit. Irgendwann wird nämlich nur körperliche Schönheit nicht mehr ausreichen, um das Verlangen nach Schönheit zu stillen.
Diese Schönheit wahrzunehmen, ist natürlich etwas schwieriger als bei körperlicher Schönheit. Einen schönen Körper kann ich sehen und anfassen, aber charakterliche Schönheit springt einem selten sofort ins Auge. Meistens muss man eine Person deutlich besser kennen, um schöne Charaktereigenschaften wie Ausgeglichenheit, Rücksicht, Empathie, Gerechtigkeit, innere Stärke oder was sonst noch charakterlich schön ist, überhaupt wahrnehmen zu können.
Auf dieser zweiten Stufe lieben wir also Menschen, die charakterlich schön sind. Und wir lieben und begehren sie, weil wir in diesen Menschen einen kleinen Teil der Empathie an sich, der Gerechtigkeit an sich oder der Stärke an sichsehen können.
Die Schönheit an sich
Die letzte Stufe betrifft laut Platon nun die Philosoph*innen, also die Menschen, die nach der Weisheit und dem wahren Wesen der Dinge suchen. Denn sie können eine Form der Liebe erreichen, die komplett losgelöst ist von Menschen.
In der Regel lernt man in seinem Leben nicht nur eine Person kennen, in der man diese charakterliche Schönheit sieht. Man kennt vielleicht mehrere Menschen, die stark sind, die sozial sind, die gerecht sind usw. Und irgendwann wird man wie von einem Blitzschlag der Erkenntnis getroffen, sagt Platon, und man sieht nicht mehr nur die Gerechtigkeit in einer Person oder in mehreren, sondern man kann all diese Teile der Gerechtigkeit, die in den Menschen durchschimmern, zu der absoluten Gerechtigkeit zusammensetzen. Ab diesem Zeitpunkt versteht und liebt man die Gerechtigkeit an sich, oder in Platons Worten: die Idee der Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit sollte hier nur als eine Tugend unter vielen gelten. Dasselbe gilt natürlich auch für alle anderen Tugenden. Ab da liebt man die Schönheit an sich. Man ist nicht mehr darauf angewiesen, die Bruchstücke der Schönheit in anderen Menschen zu suchen, weil man das grundlegende Prinzip, die Urschönheit erkannt hat.
Platon hält das übrigens für sehr realistisch. Philosoph*innen können diese Stufe erreichen. Und eben das universell Schöne lieben. Deshalb sind Philosoph*innen laut Platon auch mit sich im Reinen. Sie müssen das Schöne und Gute in der Welt nicht mehr suchen, sie haben es ja schon verstanden.
Liebe und Schöpfung
Es geht nun eben doch wieder um eine komplexe philosophische Theorie, die nicht ganz einfach zu verstehen ist. Ab jetzt wird es aber auch wieder einfacher. Wenn ihr bis hierhin verstanden habt: körperliche Schönheit – charakterliche Schönheit – Schönheit an sich, dann seid ihr noch dabei.
Der letzte Punkt, um Platon zu verstehen, wird nun im Hinblick auf Sexualität noch einmal wichtig. Denn laut Platon setzen Liebe und Begehren immer den Drang frei, etwas zu erschaffen und schöpferisch tätig zu sein. Vielleicht hattet ihr schon mal den Drang, euch eure Gitarre zu schnappen und eurer*m Angebeteten ein Lied zu komponieren. Das ist das, was Platon meint. Im Fall eures Gitarrenspiels würde es sich also um eine kulturelle Schöpfung aus Liebe zu dieser Person handeln, wahrscheinlich weil ihr auf einer musikalischen und kulturellen Ebene besonders verbunden seid..
Auch dieser Schöpfungsdrang richtet sich nach der Stufe, auf der man sich befindet. Philosph*innen sind für Platon deshalb übrigens auch die idealen Staatsmänner und –frauen, weil sie z. B. in der Lage wären einen gerechten Staat zu schaffen, einfach aus Liebe zur Gerechtigkeit an sich. Hier ginge es also um eine politische Schöpfung.
Und auf der ersten Stufe, auf der Stufe der körperlichen Anziehung, ist eben auch der Schöpfungsdrang ein körperlicher. Es geht um Fortpflanzung und um Sex, um das Verlangen mit einem anderen Menschen eine Schöpfung des Körpers hervorzubringen. Um es also noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ja, es geht in Platons Gedanken zur Liebe auch um Sexualität.
Platon und das Christentum
Wie ist es dann also dazu gekommen, dass wir heute davon ausgehen, dass „platonische Liebe“ eine Liebe ist, in der es nicht um Sexualität geht? Und wenn ihr die Zwischenüberschrift gerade schon gelesen habt und glaubt, ihr könntet euch denken, worauf das hinausläuft: Nein, es ist nicht das Christentum per se, das hier ein Problem mit Sexualität hat.
Als in der Spätantike christliche Autoren immer einflussreicher werden, sind Platons Gedanken zunächst einmal überhaupt kein Problem. Denn wenn man sich das Theoriegebäude so anschaut, dann muss sich niemand ein Bein ausreißen, um Platon mit dem Christentum in Einklang zu bringen. Das Schöne und Gute an sich als höchste Form und höchstes Ziel der Liebe, ist für Christen gar kein Thema. Ihre Herangehensweise ist, dass Platon das alles ein bisschen abstrakt und kompliziert ausgedrückt hat, es aber ja um die göttliche Vollkommenheit geht. Die höchste Form der Liebe ist für die Christen der Spätantike also einfach die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott.
Daneben kann es problemlos niedrigere Stufen der Liebe geben, wie die Liebe zu anderen Menschen und das Bedürfnis aus dieser Liebe heraus Kinder zu zeugen. Platons Theorie lässt sich wirklich leicht mit christlichen Gedanken vereinbaren.
Die Renaissance – die Wiedergeburt, aber bitte nur der Teile, die uns in den Kram passen
Im Mittelalter sind Platons Schriften in West- und Mitteleuropa unbekannt, erst mit der Renaissance entdeckt man sie wieder. Zwischen der Renaissance und der Spätantike liegen aber circa 1000 Jahre. Und in dieser Zeit hat sich viel gewandelt, vor allem die Sexualmoral.
In der Renaissance stößt es vielen Gelehrten sehr negativ auf, dass es im Symposion auch um Sexualität und Körperlichkeit geht. Das sind Themen, über die man in der Renaissance nicht sprechen will. Natürlich sind die Menschen dieser Zeit in dem Dilemma gefangen, dass man irgendwie Kinder bekommen muss, aber das Sexualität grundsätzlich als niederer Trieb angesehen wird, als etwas, das eines so edlen Geschöpfes wie dem des Menschen eigentlich unwürdig ist. Das ist weniger ein Problem des Christentums an sich, sondern ein kompliziertes Geflecht aus Kultur, Tradition und Religion.
Zusätzlich gibt es mit Platons Symposion und seinen Gedanken über die Liebe aber noch ein zweites Riesenproblem. Platon thematisiert im Symposion überwiegend gleichgeschlechtliche Liebesverhältnisse zwischen Männern. Da Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern aber immer unfruchtbar ist, ist das in der Renaissance immer eine Sünde. Unfruchtbare Formen von Sex und dann noch mit dem eigenen Geschlecht gelten als unnatürlich und ein Vergehen gegen Gottes Willen. Und da die Gelehrten der Renaissance eine reale Angst davor haben, in der Hölle zu landen, wenn sie so etwas überhaupt nur thematisieren, lassen sie es einfach.
Das heißt die erste Stufe, die körperliche Anziehung in Platons Modell der Liebe ist verdächtig. Sie wird entweder verschwiegen und ausgeblendet, indem man so tut, als hätte Platon nie etwas über Sexualität gesagt. Oder Sexualität wird als Gegensatz zur „wahren Liebe“, zur „platonischen Liebe“ definiert, die ohne Sexualität auskommt. Das können die Liebe Gottes sein, die Nächstenliebe oder auch einfach Menschen, die ihre Sexualität nicht ausleben, weil sie angeblich eine höhere Stufe erreicht haben.
Platonische Liebe unter der Lupe
Und so langsam versteht man auch, woher diese Bedeutungsverschiebung kommt, die uns bis heute nachhängt. Platonische Liebe ist angeblich die unkörperliche Liebe, die „bessere“ und „vollkommenere“ Liebe. Wie wir gerade gesehen haben, hat Platon das so nicht gesagt. Für ihn gehören auch die unteren Stufen der Liebe einschließlich der Sexualität dazu. In Platons Augen kann und muss auch nicht jede*r Philosoph*in werden. Die meisten Menschen werden diese unterste Stufe der Liebe nicht vollständig verlassen können oder wollen. Und auch damit hat Platon kein Problem.
Den Gedanken, dass das ein Problem ist, verdanken wir also ein paar Gelehrten der Frühen Neuzeit, die mit Sexualität nicht klarkamen, insbesondere dann nicht, wenn sie sich auf das eigene Geschlecht richtete.
Vor diesem Hintergrund ist der Begriff „platonische Liebe“ in seiner modernen Verwendungsweise einfach irreführend, historisch falsch und unschön aufgeladen mit einer historischen Körperfeindlichkeit, die ihm eigentlich gar nicht zugrunde liegt.
Natürlich handelt es sich dabei heutzutage um einen feststehenden Ausdruck und die wenigsten Leute werden erstmal ihre Platonausgabe rauskramen, um nachzulesen, ob Platon das wirklich so gemeint hat. Trotzdem könnte man überlegen, ob einem nicht ein besserer Begriff dafür einfällt, damit Platon sich nicht jedes Mal im Grab umdrehen muss, wenn wieder jemand von „platonischer Liebe“ spricht.
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