Auge um Auge, Zahn um Zahn – Der Codex Hammurabi

Auch heute noch benutzen wir der Ausspruch „Auge um Auge“ im Zusammenhang mit Rache und Bestrafung. Gleiches wird mit gleichem vergolten – was uns ziemlich vorsintflutlich vorkommt. Dahinter steckt auch tatsächlich ein sehr altes Rechtsprinzip, das sich schon im alten Testament findet. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte.

In der Regel folgt Bestrafung in unserem Rechtssystem heute anderen Prinzipien als der Vergeltung von Gleichem durch Gleiches. Man versucht einen Ausgleich zu finden zwischen dem Vergeltungsbedürfnis des Opfers, der Entschädigung und dem Anspruch, aus dem oder der Täter*in wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu machen.

Im Alltag dagegen kommt das Prinzip aber nach wie vor immer mal wieder vor. Wer kennt nicht den berühmten „Seitensprung aus Rache“? Die Logik dahinter ist einfach nachzuvollziehen. Und es ist auch nicht verwegen anzunehmen, dass Menschen schon seit Anbeginn der Zeit so dachten. Und dass der Gedanke Eingang in frühe Gesetzeswerke gefunden hat, liegt nahe. 

Biblische Ursprünge

Der Spruch „Auge und Auge, Zahn um Zahn“ stammt zunächst einmal aus dem Alten Testament. Er wird dort gleich mehrfach erwähnt. Zum Beispiel im zweiten Buch Mose (Exodus). Was oft nämlich vergessen wird, ist, dass Gott nach der Verkündung der 10 Gebote noch nicht fertig ist. 

An sie schließen sich die so genannten „Bundesgesetze“ an. Das sind weitere, sehr konkrete Regeln, die das Volk der Hebräer*innen zu befolgen hat. Sie definieren unter anderem auch todeswürdige Verbrechen, und  dabei kommt dann ein Thema auf, das uns etwas merkwürdig anmutet: 

22 Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, sodass ihre Kinder abgehen, ohne dass ein weiterer Schaden entsteht, dann muss der Täter eine Buße zahlen, die ihm der Ehemann der Frau auferlegt; er muss die Zahlung nach dem Urteil von Schiedsrichtern leisten. 23 Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, 24 Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, 25 Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.“

Exodus 21,22-25, Einheitsübersetzung

Hierher stammt also die berühmte Formulierung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Dass schwangere Frauen offenbar öfters in eine Schlägerei hineingerieten, scheint damals ein echtes Problem gewesen zu sein. Heute käme uns ein solcher Fall vermutlich gar nicht erst in den Sinn, wenn wir uns über Bestrafungen unterhalten. 

Das ist einer der Gründe, weshalb so viele Regeln und Gesetze aus dem Alten Testament in unserer modernen Welt nicht mehr funktionieren. Aber dazu kommen wir später noch mal.

Auch Gott war ein Kind seiner Zeit

Wie wir heute wissen, ist das Alte Testament nicht so kreativ, wie man lange Zeit dachte. Es ist inzwischen unumstritten, dass die Erschaffung des Menschen Motive aus älteren Texten aufgreift. Auch die Sintflut kommt nicht nur in der Bibel vor. Selbst die Geschichte vom Paradies hat Vorgänger. Immerhin ist sogar „Eden“ ein sumerisches Wort, das schon Jahrtausende vor den Hebräer*innen existierte. 

Und so ist es auch mit dem detaillierten Regelwerk, das im Buch Exodus zutage tritt. Auch dafür gab es Vorläufer. Aber wo? Wann gab es eigentlich überhaupt das erste Mal Gesetze und Regeln für das menschliche Zusammenleben?

Geographisch sind wir bereits annähernd in der richtigen Region, nämlich dem Vorderen Orient. Nur zeitlich müssen wir ein wenig zurückgehen, nämlich an den Anfang des dritten Jahrtausends vor Christus.

Fressen und gefressen werden

Nach dem Zusammenbruch des ersten größeren Staatsbildes der Weltgeschichte überhaupt, des akkadischen Reiches, machte sich im Land zwischen Euphrat und Tigris ein Volk breit, das heute fast niemand mehr kennt: Die Amoriter*innen. 

Nach den antiken Quellen waren sie eine Art halb-nomadisches Volk aus dem Gebiet etwa des heutigen Syrien. Sie kommen übrigens auch im Alten Testament vor, werden da aber nicht so besonders positiv geschildert. Aber welches fremde Volk kommt im Alten Testament schon gut weg? Sie werden sogar ziemlich brutal von den Israelit*innen aus Kanaan vertrieben.1 So was war in der damaligen Zeit aber relativ normal. Wenn man mit seinen Leuten irgendwo einwandern wollte und einheimische Bevölkerung im Weg war, wurde sie im Zweifel einfach weggeknüppelt.

Sternstunde einer Hure

Unter anderem erhoben die Akkader*innen eine bis dahin unbedeutende kleinen am Ort am Unterlauf des Euphrat zur Hauptstadt, den heute jede*r kennt: Babylon. Über diese Stadt allein könnte man Bücher füllen. Im Neuen Testament wird sie als Ort des Lasters beschrieben und ziemlich drastisch mit der Bezeichnung „Hure“ belegt.2

Das wohl berühmteste Bauwerk aus dem alten Babylon: Das Ischtar-Tor, heute im Pergamon-Museum in Berlin zu sehen. Das Tor wurde aber rund 1.200 Jahre nach Hammurabi erbaut. (Foto: Gary Lee Todd, gemeinfrei)

Das kommt auch nicht ganz von ungefähr, denn schon zur Zeit der Amoriter*innen war Babylon ein Schmelztiegel der Kulturen. Es war laut, schnellebig und vielfältig, wie eben Großstädte so sind.

Überhaupt ist die gesamte mesopotamische Geschichte von einer Vielzahl unterschiedlicher Völkerschaften geprägt. Und sie alle hatten ihre eigenen Gottheiten, die sie verehrten. 

Wer war Hammurabi?

Rund 200 Jahre nach dem Beginn der amoritischen Herrschaft über Babylon bestieg der Mann den Thron, um den es heute geht: Hammurabi. Bis heute genießt dieser König vor allem durch seine umfangreiche Gesetzessammlung einen gewissen Ruhm, den Codex Hammurabi. Dabei war er keineswegs der erste mesopotamische Herrscher, der eine solche Sammlung an schriftlich fixierten Regeln verfasste. Schon seine akkadischen Vorgänger hatten entsprechende Texte verfasst.

Das an sich war natürlich schon ein bedeutender Schritt. Bis dahin oblag die Rechtssprechung allein den Priestern im Tempel. Sie waren es, die den göttlichen Willen deuteten und entsprechende Urteile fällten. 

Das änderte sich mit den Gesetzestexten des Urnammu etwa 400 Jahre vor Hammurabi. Der Text ermöglichte es nun allen, gültige Rechtsgrundsätze nachzulesen und sich darauf zu berufen. Mit einem kleinen Schönheitsfehler, denn wer konnte zu dieser Zeit schon lesen?

Das ist ein absolut berechtigter Einwand. Und trotzdem bleibt es dabei: Erstmals wurden Gesetze öffentlich (!) ausgestellt. Ob sie nun jede*r lesen konnte oder nicht. 

Ohne hier auf die Details einzugehen: Nicht nur das Lesen an sich war nicht weit verbreitet. Hinzu kommt noch, dass die Keilschrift kein einfaches Schriftsystem ist. Man muss – heute sowieso, aber damals auch – studiert haben, um sie lesen zu können.  

Ein ziemlicher Klotz…

Trotzdem spricht man heute eher vom Codex Hammurabi als vom Codex Urnammu. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste ist schnell erklärt: Der Codex Hammurabi ist die einzige frühe mesopotamische Gesetzessammlung, die einigermaßen vollständig erhalten ist. Von den  Vorgängern haben wir nur Bruchstücke.

Der Kopfbereich der Stele, auf der Hammurabi (li.) vor dem Sonnengott Schamasch (re.) zu sehen ist. 
unbekannter Fotograf, CC BY SA 2.5

Ein weiterer Grund für die Wirkung, die der Codex nach seiner Entdeckung auf die Wissenschaft und die öffentliche Wahrnehmung hatte, ist sicherlich seine imposante Erscheinung. Zwar hat man inzwischen weitere Fragmente des Codex gefunden, aber der erste Fund waren die Bruchstücke einer Stele, die man 1901/1902 in Susa im heutigen Iran fand. 

Die Stücke wurden nach Paris gebracht und dort zusammengesetzt. Es kam dabei eine knapp 2.30m große Stele aus Diorit heraus. Dabei handelt es sich um ein ähnliches Gestein wie Granit, also ein ziemlich hartes Material. Wir kennen den Diorit heute vor allem von Grabsteinen. Es muss dementsprechend lange gedauert  haben, den riesigen Stein fein säuberlich zu beschriften.

… und was darauf zu sehen ist

Im oberen Bereich befindet sich ein Relief, auf dem zu sehen ist, wie Hammurabi vor dem Sonnengott Schamasch tritt und von ihm den Auftrag zur Gesetzgebung erhält.3 Die Gesetze erhalten damit einen göttlichen Charakter. Kurzer Einschub: Man merkt also, woher die Verfasser des Alten Testaments diese Idee hatten.

Darunter und auf der Rückseite befindet sich der Text des Codex. Den Gepflogenheiten der Zeit folgend, ist er in der akkadischen Sprache verfasst und in Keilschrift notiert. Nach einer Einleitung werden im Text 282 Gesetze und Regel aufgelistet, fein säuberlich nach Bereichen getrennt: Verfahrensrecht, Eigentumsrecht, Familien- und Erbrecht (inklusive Scheidungsrecht), private und berufliche Haftung und einige mehr.4 Es lohnt sich, ein paar dieser Regeln und Gesetze mal genauer zu betrachten.

Und wenn wir uns schon mit Hammurabis Codex beschäftigen, soll er auch einmal in seiner Sprache zu Wort kommen: 

Der Keilschrift-Text.

Übersetzen lässt sich dieser erste Paragraph so: 

§ 1 Wenn ein Mensch einen anderen bezichtigt und die Bezichtigung gegen ihn (vor Gericht) aussagt, aber ihn nicht überführt, so soll sein Bezichtiger getötet werden. 

Übersetzung nach Hugo Winckler

Schon dieser Paragraph sagt eine Menge über den Codex Hammurabi aus.

Die Weisheit der Organe

Fangen wir also erst mal vorne an: Jeder Paragraph des Textes fängt mit dem Wort šumma („wenn“) an. Die Rechtssprechung wird also an Einzelfällen erläutert. Es werden keine abstrakten Grundsätze formuliert, sondern immer konkrete Beispiele angeführt.5

Es gibt da eine übrigens Parallele zu anderen akkadischen Texten, nämlich zu den Orakelssprüchen. Die fangen auch immer mit dem Wort „šumma“ an. In der Regel geht es dabei um Organe.  

Ein Beispiel für altbabylonische Lebensweisheiten: 

šumma naplastum ressa iptur, ina reš eqlim ummanam iluša izzibuši. 

Wenn sich der Kopf des linken Leberlappens spaltet, werden die eigenen Götter das Heer am Ziel im Stich lassen. 
YOS 10,11, II, 20-22

Man hat seinerzeit ganz gerne tote Tiere aufgeschnitten und sich das Innenleben angeschaut. Daraus glaubte man im alten Orient (aber später auch noch bei den Römer*innen), etwas über die Zukunft ablesen zu können. Irgendwann hatten die beteiligten Priester einige Erfahrung im Lesen nicht nur der Keilschrift, sondern auch von Eingeweiden. Diese Erfahrungen schrieben sie in Lehrsätzen nieder.

Über den Ekelfaktor der ganzen Sache brauchen wir hier nicht weiter zu sprechen. Viel wichtiger ist: Mit der Einleitung „šumma“ („wenn“) rückt Hammurabi seine Gesetze – bewusst oder unbewusst – in die Nähe der Lehrsätze aus der Orakelkunde. „Wenn das und das vorkommt, dann wird das und das geschehen.“ Das ist Schicksal. Oder man könnte sagen: Es ist göttlicher Wille. Mit anderen Worten: Was Hammurabi hier formuliert, ist göttlicher Wille.

Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils

Eine Anschuldigung muss, laut diesem Paragraphen, bewiesen werden. Das ist im Kern der erste Ansatz für eine Unschuldsvermutung und vor allem eine Festlegung, dass die Beweislast bei der Person liegt, die eine Anschuldigung vorbringt. Hörensagen gilt übrigens nebenbei auch nicht mehr: Man muss eine Anschuldigung beweisen. Und zwar vor Gericht. Das ist ein ziemlich starker Rechtsgrundsatz. Dass er heute (wieder) gilt, darüber können wir sehr froh sein.

Zuguterletzt fällt aber noch etwas Anderes auf, und das ist die Brutalität. Sie kommt hier als letzter Punkt, obwohl sie für ein*e moderne*n Leser*in vermutlich das erste ist, was ins Auge springt. 

Abgeschnittene Körperteile und Todesstrafe

Die Brutalität ist fast ein Markenzeichen des Codex. Er wird gerne zitiert, wenn man über auf die Selbstverständlichkeit von Gewalt in antiken Kulturen zu sprechen kommt. Das kommt auch nicht von ungefähr:

§ 282 Wenn ein Sklave zu seinem Herrn sagt: „Du bist nicht mein Herr.“ und wenn er ihn überführt, daß er sein Sklave ist, soll ihm sein Herr das Ohr abschneiden.

Übersetzung nach Hugo Winckler

Sklaverei ist heute zum Glück aus der Mode gekommen. Und jemandem das Ohr zur Strafe abzuschneiden, zählt heute nicht mehr zum Repertoire moderner Rechtssprechung. 

§ 8 Wenn jemand ein Rind oder Schaf oder Esel oder Schwein oder Schiff stiehlt, wenn es dem Gotte oder Hofe gehört, soll er es 30-fach geben; wenn es einem Freigelassenen gehört, soll er es 10-fach ersetzen; wenn der Dieb nichts zu geben hat, soll er getötet werden. 

Übersetzung: Hugo Winckler

Wir können uns heute kaum noch vorstellen, dass man jemanden wegen eines Diebstahls töten sollte. Aber der zitierte Paragraph 8 lässt ein Rechtsprinzip sehr deutlich werden, dass wir heute als Talion (ius talionis) bezeichnen. Hierunter versteht man den Grundsatz, dass das Unrecht durch die Bestrafung ausgeglichen werden soll. 

Gleiches mit Gleichem vergelten

Und da ist er: Der Kerngedanke, der auch im biblischen „Auge um Auge“ zum Ausdruck kommt. Allerdings sollte man an dieser Stelle auch erwähnen, dass diese ganze Augen- und Körperteilgeschichte im Alten Testament (und auch im Codex Hammurabi) komplexer ist. In beiden Texten kennt man auch das Prinzip, dass ein Schaden angemessen wiedergutgemacht werden soll (nicht, indem man dem Täter unbedingt dasselbe antut), zum Beispiel in 2 Mose/Exodus 21,18.

Im Paragraphen 8 lässt sich das sehr plastisch nachvollziehen. Es geht um einen wirtschaftlichen Schaden. Es ist nachvollziehbar, eine Strafe zu bemessen, die nicht nur für eine Kompensation sorgt, sondern den Schaden auch gleich doppelt und dreifach (oder im konkreten Fall zigfach) wieder gutmacht. 

Hat die schuldige Person nichts zu geben, dann bleibt nur noch, ihr körperliche Gewalt anzutun. Und das ist der Punkt, vor dem unser modernes Rechtssystem spätestens Halt macht. 

Scheidung wegen Vernachlässigung

Die Ehegesetzgebung im Codex Hammurabi war übrigens in dem Sinne (für unsere Begriffe) fortschrittlich, dass Scheidungen erlaubt waren. Auch Frauen konnten sich scheiden lassen:

§ 142 Wenn ein Weib mit ihrem Gatten streitet und spricht „du sollst nicht mit mir verkehren“, so sollen ihre Beweise für ihre Benachteiligung geprüft werden: wenn sie recht hat, ein Fehler ihrerseits nicht besteht, ihr Gatte weggeht (=sich herumtreibt), sie sehr vernachlässigt, dann soll dieses Weib keine Schuld haben, sie soll ihr Geschenk nehmen und in das Haus ihres Vaters gehen. 

Übersetzung: Hugo Winckler

Mit „Geschenk“ ist die Mitgift der Frau gemeint. Die Tatsache, dass auch eine Frau buchstäblich ihre Sachen packen und ihren Mann verlassen durfte, erscheint uns, wie schon gesagt, vergleichsweise fortschrittlich für eine Kultur, deren Blütezeit nun schon fast 4.000 Jahre vergangen ist.

Aber der Zusatz, dass die betreffende Frau ins Haus ihres Vaters gehen soll, deutet an, dass Frauen gesellschaftlich eben dann doch nicht gleichberechtigt waren. Indem sie ins Haus ihres Vaters zurückkehrt, begibt sie sich wieder in den Schutz und unter die Kontrolle ihres vorigen Vormunds. 

Frauen, die sich herumtreiben

Eine moderne Frau käme kaum auf diese Idee. Sie würde sich einfach eine eigene Wohnung nehmen. Mit genaueren Aussagen über die gesellschaftlichen Bedingungen im alten Mesopotamien muss man ein bisschen vorsichtig sein, aber die Parallele zu anderen antiken Kulturen drängt sich auf, in denen Frauen immer einen männlichen Vormund brauchten. Das war in jungen Jahren ihr Vater, später ihr Mann. Eine Frau ohne männlichen Vertreter hatte einen schweren Stand. Das wird auch durch den folgenden Paragraphen unterstrichen: 

§ 143 Wenn sie nicht im Recht ist, wenn sie weggeht, ihr Haus vergeudet, ihren Gatten vernachlässigt, dann soll man dieses Weib ins Wasser werfen. 

Übersetzung: Hugo Winckler

Zusammengefasst: Wenn der Mann Mist gebaut hat, verliert er seine Frau. Wenn die Frau Mist gebaut hat, wirft man sie ins Wasser. Dieses Missverhältnis würde sich durch die eben erläuterten Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern erklären. Die Frau hatte es gewagt, gegen den Mann aufzubegehren, unter dessen Kontrolle sie stand. Dieses Aufbegehren ist das eigentliche Vergehen, das hier bestraft werden soll. 

Meilenstein oder nicht?

Welche Wirkung hatte dieses Gesetzeswerk? Mit der Frage sind wir an einem Punkt angekommen, über den die Wissenschaft seit fast einem Jahrhundert heftig streitet.

Als der Codex Hammurabi entdeckt wurde, glaubte man zunächst, die erste Gesetzessammlung der Menschheitsgeschichte gefunden zu haben. Damit käme dem Codex eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn dann lägen hier die Ursprünge eines jahrtausendelangen Ringens um Rechtsprinzipien, dem Verhältnis von Kompensation, Rache und angemessener Strafe, aber auch Beweislast, Unschuldsvermutung und fairen Verfahrensabläufen.

Bei aller Brutalität und allen Unzulänglichkeiten wäre der Codex ein gewaltiger Schritt hin zu einer transparenten einheitlichen Rechtsprechung gewesen – kurz: zu einer grundlegenden Kulturleistung, die bis in unsere heutige Zeit hinein zentral ist. 

Doch dieses Bild bekam schnell Kratzer. Zwei davon haben wir schon erwähnt: Zum einen hatte der Codex, wie wir heute wissen, Vorläufer. Aber geschenkt: Hammurabi hatte das Glück, dass seine Gesetzessammlung zuerst gefunden wurde und besser überliefert ist. Gönnen wir ihm also gern den späten Ruhm, als Begründer von Gesetzessammlungen zu gelten. 

Zweitens, wie schon erwähnt, konnte zu Hammurabis Zeiten kaum jemand lesen. Der Wert einer öffentlich ausgestellten Gesetzessammlung war also ohnehin begrenzt. Und damit ist man bei einer ganz zentralen Frage: Was bezweckte Hammurabi eigentlich mit der Ausstellung dieser Stele(n)? Er war ja nicht blöd. Er lebte ja in dieser Zeit und wusste, wer alles nicht lesen konnte. 

Eine Gesetzessammlung als Selbstinszenierung…?

Glücklicherweise hilft Hammurabi selbst uns an dieser Stelle ein bisschen weiter, den auf der Stele finden sich nicht nur Gesetzestexte. Es gibt vielmehr eine Einleitung und auch einen Schlussteil. 

In der Einleitung begründet Hammurabi unter anderem seine Autorität damit, dass er von den Göttern zum König bestimmt worden sei, um – und da wird es interessant – eine gerechte Ordnung sicherzustellen, die Unterdrückung der Schwachen zu beenden und für das Wohlergehen der Menschen zu sorgen.6 Im Epilog, dem Schlussteil, wird Hammurabi dann sogar noch deutlicher: 

25 3Der Bedrückte, der eine Rechtssache hat, soll vor mein Bildnis als König der Gerechtigkeit kommen, meine Inschrift lesen, meine kostbaren Worte vernehmen, meine Inschrift soll ihm die Sache aufklären, sein Recht soll er finden, sein Herz froh machen: „Hammurabi ist ein Herr, der wie ein Vater für die Untertanen ist […]“ 

Codex Hammurabi 25, 3-19, übersetzt von Hugo Winckler

Laut dieser Selbstauskunft bezweckt Hammurabi also tatsächlich, dass man auf der Stele Auskunft über die gültige Rechtsordnung bekommt und sich darauf berufen kann. Wie bringt man diesen Anspruch denn nun in Einklang mit der Tatsache, dass fast niemand lesen konnte? Handelte es sich letztlich dann beim Codex doch nur um Blendwerk und bloße Selbstinszenierung? 

…oder als Symbol mit Signalwirkung?

Es gäbe da eine Lösung: Man kann auch ein Ideal formulieren, ohne dass es (zum aktuellen Zeitpunkt) erreichbar wäre. Insofern handelte es sich um ein wichtiges Signal, denn die babylonische Oberschicht, also hohe Beamte und Priester, konnten sehr wohl lesen. Sie wussten, welche Ideale Hammurabi verfolgte.

Auch wenn das so genannte „einfache Volk“ nach wie vor keinen echten Zugang zum Inhalt der Gesetzessammlung hatte, so waren den Rechtsgelehrten der Zeit die Grundsätze klar. Sie mussten sich an diesen Prinzipien messen lassen. 

Insofern sind die eigentlich spektakulären Dinge am Codex Hammurabi genau die Dinge, die man mit dem modernen Auge überliest, weil sie für uns selbstverständlich sind: Dass die Beweislast beim Ankläger liegt, dass Anschuldigungen bewiesen werden müssen (und zwar vor einem ordentlichen Gericht), dass eine grundsätzliche Unschuldsvermutung gilt. 

Von Babylon über Susa nach Israel

Diese Signalwirkung scheint die Gesetzessammlung übrigens nicht verfehlt zu haben. Als die Elamit*innen Babylon 600 Jahre später eroberten und plünderten, nahmen sie nicht Geld und Gold mit, sondern verluden auch die schwere Diorit-Stele und brachten sie in ihre Hauptstadt Susa, um sie dort aufzustellen. Das unterstreicht, welcher Wert ihr beigemessen wurde. Ihre Strahlkraft ging weit über Babylon hinaus. Im gesamten vorderen Orient wurden Bruchstücke von Kopien des Textes gefunden. 

Das Alte Testament ist in diesem Zusammenhang nicht vom Himmel gefallen. Es steht im Kontext seiner Zeit und greift selbstverständlich vorhandene gesellschaftliche Entwicklungen und Zustände auf, die im gesamten Orient vorherrschten. 

Was das Alte Testament und Jurassic Park gemeinsam haben

Eine Sache muss man aber im Zusammenhang mit dem Alten Testament immer noch deutlich sagen: Der Text ist alt und uns kulturell sehr fremd geworden. Man kann nicht auf die Herausforderungen der modernen Zeit mit Texten aus der Eisenzeit antworten.

Sie können uns eine Lehre sein, sie können uns Denkanstöße geben. Aber sie taugen nicht dazu, wörtlich befolgt zu werden. Wir alle haben Jurassic Park gesehen. Wir wissen, wie gefährlich es ist, wenn man Dinosaurier in die Gegenwart holt.

Den Codex Hammurabi würde heute niemand als Maß für ein modernes Rechtsempfinden ansehen. Warum sollte man dem Alten Testament einen solchen Status zugestehen?

Das gilt im Übrigen nicht nur für das Entfernen von Körperteilen im Sinne von „Auge um Auge“. Es gilt auch für die vielen anderen, kleinen Regeln aus dem Alten Testament. Selbstverständlich dürfen zwei Männer miteinander Geschlechtsverkehr haben, genauso wie eine Ehebrecherin heute nicht mehr getötet werden darf. Wenn eine Frau Sex mit einem Tier hat, ist das selbstverständlich ein ziemlich unschöner Verstoß gegen den Tierschutz, aber sie (und schon gar nicht das unschuldige Tier) sollten deswegen sterben müssen.7

Und ja: Wer es möchte, darf auch Klippdachse und Kamele essen. Ob sie nun gespaltene Hufe haben oder nicht.8 Es ist eher die Frage, ob man das wirklich will.

  1. Deuteronomium 3,6-8
  2. Offenbarung des Johannes 17-18
  3. Die Szene wurde übrigens sehr detailliert analysiert von Gabriele Elsen-Novák und Mirko Novák, Der „König der Gerechtigkeit“ – Zur Ikonologie und Teleologie des „Codex“ Ḫammurapi, in: Baghdader Mitteilungen 37 (2006), S. 131-155
  4. Marc van de Rierop, King Hammurabi of Babylon – A Biography, Malden 32007, S. 103-102
  5. Marc van de Rierop, King Hammurabi of Babylon – A Biography, Malden 32007, S. 115
  6. Codex Hammurabi 1,32-56 in der Zählung bei Winckler
  7. alle diese Regeln: 2. Buch Mose/Exodus, 20,6-8
  8. 2. Buch Mose/Exodus 11,5

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Kommentare

2 Antworten zu „Auge um Auge, Zahn um Zahn – Der Codex Hammurabi“

  1. Avatar von Martina Lilli-Lille

    Die deppate genderei ist unerträglich.
    Muss das sein, geht’s nicht ebenso gut ohne.

    1. Hallo Martina. Schade, dass dich der Genderstern so stört. Ich hoffe, der Beitrag hat dir vom Inhalt her trotzdem gefallen. Aber zu deiner Frage: Es ist nicht ganz leicht, da einen guten (Mittel-)Weg zu finden, und auch wir entwickeln uns in dem Punkt immer noch weiter. Der Beitrag ist bereits etwas älter, und als wir damals mit dem Blog begonnen haben, haben wir noch öfter und häufiger Formen mit Stern verwendet, als wir das heute machen würden.

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