Ich wurde neulich gefragt, was eigentlich ein „Menetekel“ sei. Hat man sich einmal als Altphilolog*in zu erkennen gegeben, passiert es öfter, dass man nach allen möglichen alten Wörtern gefragt wird, die gar nicht aus dem Lateinischen oder Griechischen stammen. Das Wort ist hebräisch und kommt aus dem Alten Testament. Also, zumindest für’s erste belassen wir es bei dieser Aussage. Jedenfalls eine ganz andere Baustelle. Nicht mein Fachgebiet. Nicht mal im Ansatz.
Schön wäre es, wenn man sich mit dieser Erklärung aus der Affäre ziehen könnte, aber das Glück hatte ich nicht. Zum einen glauben viele, dass man, wenn man Latein und Griechisch gelernt hat, trotz aller Beteuerungen auch irgendwie alle anderen alten Sprachen beherrscht. Zum anderen trifft das in meinem persönlichen Fall leider zu, denn meine Uni-Biographie ist mit mehreren alten Sprachen gepflastert, zu denen auch Hebräisch gehört.
Das Alte Testament gibt’s nicht für Dummies
Das Alte Testament ist aber leider einer der komplizierteren Texte des Altertums. Zu verschiedenen Zeiten entstanden, mehrfach überarbeitet (man spricht von regelrechten „Textschichten“), textkritisch nicht immer ganz gesichert und zudem noch kulturell äußerst fremd und erklärungsbedürftig.
Wenn ich nach einem Begriff, einem Ereignis oder einer Geschichte aus dem Alten Testament gefragt werde, ist die Antwort meist ein Seufzen, gefolgt von einem zusammenhanglosen Stottern. Das liegt nicht unbedingt daran, dass ich die Antwort nicht kenne, sondern daran, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Man muss so viel erklären. Zudem möchte man ja auch nicht vorschnell eine Halbwahrheit verkünden. Über manche Probleme muss man erst mal selber brüten. Aber fangen wir mal vorne an.
Das Babylonische Exil
Die Geschichte vom Menetekel stammt aus dem Buch „Daniel“. Es ist benannt nach seiner Hauptfigur, dem Propheten und Traumdeuter Daniel und spielt zur Zeit des „babylonischen Exils“. Wir befinden uns damit im 6. Jahrhundert vor Christus. Die Babylonier haben das Königreich Juda vernichtet, den Tempel in Jerusalem zerstört und zahlreiche Hebräer*innen als Sklaven nach Babylon verschleppt. Dort sollen sie unter anderem beim Bau des berühmt-berüchtigten Turms von Babylon helfen.
Diese Phase der jüdischen Geschichte hat eine immense Bedeutung. In dieser Zeit wurden viele zentrale Texte des Alten Testaments niedergeschrieben, so zum Beispiel der Auszug der Israelit*innen aus Ägypten. Während des Babylonischen Exils erinnerten sich die Hebräer*innen daran, dass sie Jahrhunderte zuvor schon einmal in Gefangenschaft gewesen waren. (Wenn es denn eine Gefangenschaft war, denn auch darüber gibt es eine Forschungsdiskussion, die wir hier ausklammern.) Auch diesen Aufenthalt in Ägypten hatten sie überstanden, waren einen Bund mit Gott eingegangen und hatten eine neue Heimat gefunden. Verständlich, dass solche alten Geschichten Mut machten und vor allem Identität stifteten, während man sich abermals in einer Gefangenschaft, diesmal in Babylon, befand.
Nun stammt das Buch Daniel, das in dieser Zeit spielt, wiederum aber nicht aus dieser Zeit. In Wahrheit ist das Buch erst zur Zeit der Seleukiden entstanden, also Mitte der zweiten Jahrhunderts v. Chr. Das nur mal so nebenbei, als kleiner Einblick, wie komplex Bibelforschung ist. Und wie vielschichtig. Wenn man das Buch Daniel verstehen möchte, spielen solche Bezüge eine große Rolle.
Das Who-is-who der Menetekel-Geschichte
Glücklicherweise spielt das für unseren kleinen Ausschnitt, die Menetekel-Story, keine allzu große Rolle. Die Sache mit dem Mentekel wird für sich genommen noch kompliziert genug. Also, genau genommen für mich wird sie kompliziert. Ihr könnt euch zurücklehnen und die gewonnenen Erkenntnisse genießen.
Über die Vorgeschichte haben wir schon gesprochen: Königreich Juda erobert, Tempel zerstört, Hebräer*innen nach Babylon verschleppt. Dem Propheten Daniel kommt während dieses Babylonischen Exils die Funktion zu, den Hebräer*innen Ausblicke in die Zukunft zu verkünden.1
Aber er tritt auch als Traum- oder Zeichendeuter auf. Und einen Anlass dafür liefert das Gastmahl des Belsazzar. Belsazzar, für den es mehrere Schreibweisen gibt, ist zu dieser Zeit der der Thronfolger des Reiches. Er veranstaltet ein prächtiges Gelage, um den Sieg über das Königreich Juda zu feiern. Nach der Beschreibung bei Daniel ließ er sich im Kreis seiner Gäste regelrecht vollaufen.2
Die Geisterhand
Dabei verhöhnt er den Gott der Juden und trinkt demonstrativ aus einem Becher, den er im Tempel geraubt hat. Nach antikem Verständnis war dieser Becher der Besitz Gottes. Er erniedrigt den Gott also in besonderer Weise. Wie wir wissen, ist das im Alten Testament eigentlich nie eine besonders gute Idee.
Und so erscheint plötzlich eine geisterhafte Hand und schreibt einen rätselhaften Spruch an die Wand des königlichen Saals.3 Die Worte lauten: Mene mene tekel u-parsin.
Belsazzar erschrickt über die gruselige Erscheinung, hat aber nicht die geringste Ahnung, was die Worte bedeuten sollen. Der Text schildert eindrücklich, wie er vor Schreck erblasst. Er lässt die „weisen Männer“ des Königshofes holen, doch auch sie verstehen den Spruch nicht. 4 Schließlich ist es Belsazzars Mutter, die Daniel holen lässt, den weisen Propheten.5 Er betritt den Saal und verkündet den Sinn der Schrift:
„Mene bedeutet: Gott hat dein Königreich/deine Herrschaft gezählt. Tekel: er hat dich gewogen und für zu leicht befunden. u-parsin: Dein Reich wird unter deinen Gegnern aufgeteilt werden.“6
Belsazzar ließ Daniel auf der Stelle für diese Deutung mit Reichtümern überschütten und machte ihn zum dritthöchsten Mann im Reich. Das änderte nichts an seinem Schicksal: Er starb noch in derselben Nacht.7 Das Babylonische Reich ging weniger Jahre später unter, als es von Medern und Persern erobert wurde.
Wer hat den größten?
Im Kern geht es bei der Geschichte natürlich um die Allmacht Gottes. Belsazzar hat es gewagt, den Gott der Hebräer*innen zu verhöhnen und zu verspotten. Dafür erhält er die Quittung.
Denkt man aber ein wenig den historisch-kulturellen Kontext mit, dann wird die Szene noch brisanter. Das Götterbild in den Kulturen des Alten Orients war grundverschieden von dem, das die neueren Religionen zeichnen.8
Gottheiten waren für die Menschen des Alten Orients allmächtige und unsterbliche Herrscher(innen). Ihnen gebührte bedingungslose Verehrung. Wurden sie vernachlässigt oder verging man sich gegen sie, reagierten sie wie weltliche Könige auch gerne mal mit Grausamkeit und Brutalität. Gottheiten waren nicht zum Liebhaben da. Man hatte sie zu fürchten.
Das muss man sich durchaus ein wenig ausmalen, weil es so grundverschieden ist von dem, was uns beispielsweise das Christentum vermittelt. Der christliche Gott spendet Trost. Er hat Erbarmen. Er kümmert sich um Arme und Kranke. Er vergibt.
Dagegen waren die Gottheiten des antiken Zweistromlands eine unerbittliche Schlägertruppe. Sie forderten. Sie straften. Sie vernichteten. Und das persönliche Befinden ihrer Untertanen (sprich: Menschen) interessierte sie nicht. Es sei denn, sie bekamen eine angemessene Gegenleistung für etwaige Hilfe. Dann waren sie zu einem Handel bereit.
Die Position als oberste(r) Herr(in) hatte auch Auswirkungen auf den Krieg. Denn ein Krieg zwischen Städten oder Völkerschaften war immer auch ein Krieg zwischen den jeweiligen Hauptgottheiten. Entsprechend wurden Siege und Niederlagen interpretiert.
Insofern befanden sich auch die Gottheiten des Alten Orients in einem permanenten Wettstreit darum, wer der/die größte und mächtigste war. Nicht nur, aber auch durch die Menetekel-Geschichte hatten die Hebräer*innen bewiesen, dass ihr Gott der größte war. Und nun versteht man auch, warum die Plünderung eines Tempels und die anschließende Benutzung des Bechers ein noch viel größerer Frevel war, als wir uns das vorstellen können.
Das Menetekel und seine Nachwirkung
Die Geschichte wurde äußerst berühmt. Das liegt sicherlich auch an der spannenden Gestaltung und der rätselhaften Inschrift, die bis heute schwer zu deuten ist. Die Szene wurde in der Kunst und Literatur vielfach bearbeitet und immer wieder neu erzählt.9
So fand der Begriff „Menetekel“ auch Eingang in die Alltagssprache. Man meint damit im Allgemeinen ein schlechtes Omen. Das muss nicht unbedingt auf Hochmut oder Fehlverhalten beruhen. Man kann den Begriff auch etwas allgemeiner verwenden. Allerdings ist das Unheil unabwendbar. Das gilt ja auch für Belsazzar, denn er hat zwar von der korrekten Deutung des Spruchs erfahren, hatte aber gar nicht mehr die Gelegenheit, sich dem Unheil zu entziehen.
Bis hierhin war die Geschichte noch vergleichsweise leicht zu erzählen. Denen unter euch, die mit dieser Erklärung des „Menetekels“ zufrieden sind, empfehle ich, an dieser Stelle mit dem Lesen aufzuhören.
Wer aber wissen möchte, was dieser blöde Spruch tatsächlich bedeuten könnte, sollte sich vor den nächsten Absätzen einen Tee kochen. Wir steigen ab jetzt noch tiefer ein, denn wir sind noch lange nicht am Ende.
Problem Nummer 1: Komische hebräische Buchstaben
Mene mene tekel u-parsin. Daraus macht Daniel: „Mene: Gott hat dein Reich gezählt. Tekel: Er hat dich auf eine Waage gelegt und für zu leicht befunden. u-parsin: Deine Herrschaft wird dir entrissen werden und zwischen Persern und Medern aufgeteilt werden.“
Da hat er aber eine ganze Menge aus den paar Wörtern rausgeholt. Und außerdem: Was ist mit dem zweiten „mene“? Heißt das nichts? Hat die Hand sich vertan und aus Versehen dasselbe Wort zweimal geschrieben?
Alles berechtigte Einwände und Fragen. Das bedeutet… Och nö. Wir müssen uns den hebräischen Text mal näher anschauen. Denn was da genau steht, sieht etwas anders aus, und zwar so:
מנא מנא תקל ופרסין
Umschrift: mn’ mn’ tql wprsjn
Was ist denn das für ein kryptischer Buchstabensalat? Das, liebe Leser*innen, ist Hebräisch ohne Vokalzeichen. So wurde es in der Antike geschrieben. Man ließ die Vokale beim Schreiben regelmäßig aus. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert. Reist man nach Israel, findet man selten Vokalzeichen. Das liegt nicht etwa daran, dass man dort zu bequem wäre für Vokale oder dass man irgendwie Platz sparen müsste und sich deswegen keine Vokalzeichen leisten kann.
Es hängt mit der Struktur der gesamten Sprachfamilie zusammen, zu der Hebräisch gehört. Das sind die sogenannten semitischen Sprachen, zu denen auch Arabisch gehört. Und in dieser Sprachfamilie haben Vokale einen schweren Stand. Sie sind, um es sprachwissenschaftlich auszudrücken, für die semantische Unterscheidung von Wörtern nicht elementar wichtig.
Das bedeutet, dass eine Konsonantenfolge wie „dlt“ im Hebräischen immer für das Wort „Tür“ steht. Gesprochen wird das Wort „delet“. Doch die Vokale muss man nicht aufschreiben, um deutlich zu machen, um welches Wort es sich handelt. Ganz unwichtig sind sie aber dann am Ende doch nicht, wie wir noch sehen werden.
Problem Nummer 2: Babylonische Sprachverwirrung
Problem gelöst? Nein. Denn das sind gar keine hebräischen Wörter. Ist ja super. In einem hebräischen Text stehen also Wörter, die gar nicht hebräisch sind. Das kommt aber im Alten Testament nicht unbedingt selten vor. Und das hat etwas mit der Geschichte der Sprachen im Alten Orient zu tun.
Das kann ich an dieser Stelle aber abkürzen. Wir überspringen Sumerisch, Akkadisch, Hurritisch, Elamisch und Hethitisch einfach und springen direkt zur heißen Kandidatin: Aramäisch. Das war zur Zeit, in der die Geschichte um den Propheten Daniel spielt, gewissermaßen die Hauptverkehrssprache des Vorderen Orients. Auch Jesus sprach – soweit wir wissen – Aramäisch.
Gott sei Dank. Denn: Aramäisch ist mit dem Hebräischen eng verwandt. Wir können Rückschlüsse ziehen. Und außerdem ist es keine Trümmersprache (das nennt man wirklich so). Wir haben ausreichend Sprachzeugnisse, um Aramäisch verstehen zu können. Und der gute Herr Gesenius, der uns im 19. Jahrhundert ein fettes Wörterbuch zum Alten Testament geschrieben hat, hat dabei auch das Aramäische nicht vergessen. Sein Wörterbuch, das natürlich seither vielfach überarbeitet wurde, ist bis heute das Standardwerk zum biblischen Hebräisch und Aramäisch. Und das, obwohl er in Nordhausen geboren wurde.
Zählen, wiegen und teilen
Das Altaramäische Verb mn’ bedeutet „zählen“. Man hat es sich für das Hebräische übrigens angewöhnt, nicht immer nur diese Konsonanten zu schreiben, sondern ein „a“ als Platzhalter dazwischenzusetzen. Das ist praktischer und lesefreundlicher. Das mache ich ab jetzt auch so, daher schreibe ich: mana’. Wie gesagt, sind die „a“s in dem Wort erst mal nur Platzhalter. Es klingt für unsere europäischen Ohren auch noch sehr anders als „mene“, aber das soll uns erst mal nicht stören. Um die Vokale kümmern wir uns noch.
Zweites Wort: tql bzw. taqal. Das bedeutet in den semitischen Sprachen „wiegen“. Hebräisch heißt das Wort übrigens schaqal. Davon komm „Schekel“, der Name einer Münze mit einem bestimmten Gewicht.
Drittes Wort: wprsjn. Das ist nun schon ein etwas längeres Wort. Das „w“ am Anfang ist ein kleiner Zusatz, der „und“ bedeutet. Gesprochen wird er entweder als „u“ oder als „w“, je nachdem, ob ein (bestimmter) Konsonant folgt. Also hier: u-prsjn.
Das Verb prs bzw. paras bedeutet „abreißen, abteilen“. Die Schnellen unter euch haben schon bemerkt, dass wir am Ende noch ein Anhängsel haben, das die vorigen Wörter nicht hatten: „jn“. Diese zwei Konsonanten legen die grammatische Form des Verbs fest. Das Wort parsin bedeutet daher „abgerissen, abgeteilt“.
Damit hätten wir also: „Zählen, zählen, wiegen und abgeteilt.“ Und jetzt kommen die Vokale ins Spiel. Die Bedeutung der Wörter haben wir geklärt, doch die Vokale legen die grammatische Form näher fest. Das letzte Wort „parsin“ hatte uns schon durch die Endung einen Hinweis gegeben, um welche grammatische Form es sich handelte. Bei den anderen Wörtern, nämlich mana’ und taqal, müssen wir uns noch dazu Gedanken machen.
Problem Nummer 3: Lesehilfen, die nicht hilfreich sind
Der Bibeltext gibt uns dazu eine Hilfestellung, denn Gelehrte des 10. Jahrhunderts n. Chr. versahen den Text mit so genannten Lesehilfen. Sie führten Vokalzeichen ein, damit wir uns heute darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen müssen. Allerdings taten sie das 1.000 Jahre, nachdem Hebräisch als gesprochene Sprache ausgestorben war. Ob sie dabei alles richtig gemacht haben, darüber kann man streiten. Und Wissenschaftler*innen tun es auch regelmäßig und mit Hingabe.
In vielen Fällen ist das kein Problem. Wir können dieser so genannten masoretischen Lesung vertrauen. Aber wir haben es hier mit einem Sonderfall zu tun, denn der Spruch ist ja nun mal geheimnisvoll. Nur das Wort parsin ist grammatisch ziemlich eindeutig, weil es ein „n“ am Ende hat. Das kann nur ein Partizip sein, also „abgerissen, abgeteilt“ heißen.
Problem Nummer 4: Vokale gesucht
Wieder Zeit für einen Seufzer. Auch wenn über den Mentekel-Spruch viel geschrieben wurde und viele Erkenntnisse als sicher verkauft werden: Sie sind es überhaupt nicht. Nicht einmal die Vokalisierung kann man für voll nehmen.
Daher findet man auch Deutungen, die in eine ganz andere Richtung gehen als das, was wir bisher zusammengetragen haben. Frank Matheus gibt in seinem „Kompaktwörterbuch Hebräisch“ 10 beispielsweise für alle drei Wörter auch die Variante an, sie als Substantive zu deuten, die allesamt Währungseinheiten der damaligen Zeit bezeichnen: Mine, Schekel und halber Schekel.
Das würde bedeuten, die Geisterhand hätte einfach nur so was wie „Euro, Dollar und Cent“ an die Wand geschmiert. Dann wäre Daniels prophetische Leistung wirklich mehr als erstaunlich gewesen, wenn er daraus den Untergang des babylonischen Reiches ablesen konnte. Das ist irgendwie unbefriedigend. Und in der Altertumskunde, wie überhaupt in den Geisteswissenschaften, sollte man sich nie mit einfachen Erklärungen zufrieden geben. Das ist so ein methodisches Ding bei uns Geisteswissenschaftler*innen.
Grammatik mal beiseite
Wenn man nun mit der Grammatik allein nicht weiterkommt, hilft vielleicht das Bedeutungsfeld. Mit was für einem Bereich haben wir es hier zu tun? Es geht ums Wiegen, ums Zählen und dann wir etwas abgerissen oder abgetrennt. Das klingt nach Verkauf und Handel.
Außerdem stehen die Begriffe auch für Währungseinheiten. Mana’ kann auch „Mine“ bedeuten, was eine ziemlich große Währungseinheit war, taqal ist verwandt mit hebräisch schaqal, also dem Schekel, der uns vielleicht heute noch ein Begriff ist. Und zuguterletzt könnte parsin einen geteilten, das heißt „halben“ Schekel bezeichnen.
Gut, wir akzeptieren den Grundgedanken, dass es um im Großen und Ganzen um Begriffe aus dem Bereich der Wirtschaft handelt. Die sprachliche Nähe ist vorhanden und inhaltlich passt es auch gut. Gerade bei Münzen kommt es aufs Zählen an. Und ihr Gewicht ist in der Antike auch elementar wichtig. Genau genommen sind die meisten Bezeichnungen für Münzen sogar ursprünglich Gewichtseinheiten. Ein Schekel sind so und so viel Gramm Silber (meistens, oder eines anderen Edelmetalls). Eine Mine ist ebenfalls über ihr Gewicht definiert.
Gibt es jetzt endlich mal eine Lösung?
Alle, die bis hierhin tapfer am Ball geblieben sind, muss ich enttäuschen. Nein, es wird keine Lösung geben. Es kann sie auch nicht geben. Denn auch Belsazzar stand ja, trotz seiner vermutlich perfekten Aramäisch-Kenntnisse, vor einem Rätsel.
Die Aneinanderreihung von Wörtern, die alle aus demselben Bereich stammen, könnte darauf hindeuten, dass wir es hier mit einer Aufzählung oder Ähnlichem aus der Sprache von Kaufleuten zu tun haben. Man stelle sich eine Szene beim Schmuckhändler des Vertrauens vor. Er sucht sich abends ein schattiges Plätzchen unter einem Feigenbaum für seine Buchhaltung und notiert: „Mine: gebucht, gewogen, geteilt.“11
Er hat eine Mine, also ein Stück Geld erhalten. Die hat er „gezählt“, also in seine Buchhaltung überführt. Er hat sie auch gewogen, um ihren Wert zu prüfen. Wenn es nach der Deutung von Daniel geht, hat er sie für „zu leicht“ befunden. Was macht man aber mit einer Mine, die ein wenig zu leicht ist? Man teilt sie. Auf diese Weise erhält man eine halbe Mine, mit der man immer noch gut bezahlen kann, und einen Rest, den man zusammen mit anderen Resten einschmelzen könnte.
Nach dieser Theorie hätte man es mit vielleicht mit einer mehr oder weniger feststehenden Formel zu tun, die im Handel oder der Geldwirtschaft anzutreffen war. Bloß: Dafür gibt es absolut keinen Beleg. Es ist Spekulation.
Ein Gott, der ganze Reiche verbucht
Funktioniert diese Spekulation denn auch noch, wenn man sie nun in die Menetekel-Geschichte einbettet? Ja, aber sie ergibt einen etwas anderen Sinn. Erst einmal besteht die Verwirrung des Belsazzar nicht darin, dass er die Worte an sich nicht versteht. Er fragt sich vielmehr: Was soll mir das sagen?
Das deckt sich ganz grundsätzlich mit antiken Orakeln, von Ur, über Babylon, nach Delphi und Rom. Die Worte sind immer verständlich und ergeben einen grammatisch korrekten Sinn. Das Rätsel besteht darin zu ergründen, was sie in der konkreten Situation zu bedeuten haben.
Dementsprechend hätte Gott mit den Worten ausgesagt: Dein Reich habe ich verbucht, es gewogen und geteilt. Oder etwas ausführlicher: Dein Reich gehört jetzt mir. Es ist mir aber zu wenig wert. Ich teile es und verwerte die Einzelteile. Das kann ich einfach machen, wie mit einem Stück Metall.
Übrigens bringt Daniel auch die Perser nicht von ungefähr ins Spiel. Das letzte Wort des Menetekels heißt u-parsin. Das klingt nicht nur für unsere Ohren ein wenig nach „Perser“. Man könnte das für weit hergeholt halten, aber das Alte Testament spielt häufiger mit solchen Anklängen. Dafür ist auch der Ba’al ein schönes Beispiel.
Wenn man antike Texte deutet, ist natürlich immer auch Subjektivität im Spiel. Die einen Fachleute finden eine solche Deutung attraktiv, die anderen würden sie als unplausibel verwerfen. Handfeste Belege gibt es nicht, solange wir im Alten Orient nicht zufällig ein Tontäfelchen finden, auf dem eine solche Formulierung vielleicht einmal schriftlich fixiert wurde.
Mit solchen Unsicherheiten muss man leben. Aber immerhin kann und sollte man sich die Mühe machen, einer möglichen Bedeutung nahezukommen. Beim Menetekel muss man aber einfach anerkennen, dass uns die Welt des Alten Orients immer noch zu fremd und zeitlich zu weit entfernt ist, um alles zu begreifen.
- Daniel 7-12 ↩
- Daniel 5,1 ↩
- Daniel 5,5-6 ↩
- Daniel 5,7-9 ↩
- Daniel 5,10-16 ↩
- Daniel 5,25 ↩
- Daniel 5,29-30 ↩
- zu den folgenden Einordnungen: Barthel Hrouda, Mesopotamien – Die antiken Kulturen zwischen Euphrat und Tigris, München 1997, S. 101-108 ↩
- Zum Beispiel in der bekannten Ballade „Belsatzar“ von Heinrich Heine, Buch der Lieder, Nr. X ↩
- Stuttgart 2006, siehe dort im aramäischen Teil s. v. ↩
- C. L. Seow, Daniel, London 2003, S. 82-83 ↩
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