Der Krieg tobt nun schon mehrere Jahre und Jahrzehnte, als sich (in einer Komödie des Dichters Aristophanes) die Frauen zusammenschließen, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Ihre Waffe: Sie treten in einen Sexstreik. Dass das die stärkste Waffe einer Frau sei, das Klischee gibt’s ja auch heute noch. Wir werfen heute aber einen Blick auf eine Frau, die ebenfalls einen Krieg entschieden haben soll. Nur auf die harte Tour.
Übrigens taucht in der besagten Komödie (der „Lysistrate“) eine Spartanerin namens Lampito auf. Sie ist eine etwas spezielle Erscheinung, denn sie ist groß, muskulös, hat einen ziemlichen Vorbau und kann nach eigener Aussage mit bloßen Händen einen Ochsen erwürgen.1
Ja, das kennt man vielleicht: Spartanische Frauen galten schon in der Antike (und so wird es noch heute oft erzählt) als „echte Kerle“. Auf dieses Bild werden wir noch mal zurückkommen müssen.
Aber in diesem Beitrag geht es weder um die Spartanerin Lampito, noch um einen Sexstreik. sondern um Telesilla. Und die war gar keine Spartanerin. Trotzdem hat das alles durchaus etwas mit ihr zu tun. Aber fangen wir mal vorne an.
Ein Geburtsort mit Tradition
Telesilla war in der Antike eine der berühmtesten Frauen überhaupt. Heute kennt sie keine Sau mehr, aber das hat auch was mit ihrem Betätigungsfeld zu tun und damit, was von ihr geblieben ist.
Sie stammte, wie gesagt, nicht aus Sparta, aber fast. Ihr Geburtsort Argos ist quasi um die Ecke. Sparta und Argos waren also Nachbarn, die eine Menge Gemeinsamkeiten hatten – aber auch eine ziemlich wechselhafte Geschichte.
Zunächst mal: Argos ist wirklich alt. Und mega traditionsreich. Ich meine, welche Stadt kann sonst von sich behaupten, 5.000 Jahre alt zu sein und schon in Homers Ilias vorzukommen? Ihre Einwohner*innen nennt man übrigens (etwas komisch) „Argiver*innen“. Telesilla war also eine Argiverin.
Trotzdem waren die Einwohner*innen von Argos und Sparta kulturell und sprachlich eng verbunden. Es handelte sich nämlich um dorische Griech*innen. Denn: Die Einwohner*innen Griechenlands waren nicht einfach „ein Brei“. Es gab durchaus deutliche sprachliche und kulturelle Unterschiede.
Die dorischen Griech*innen bildeten dabei eine von mehreren Untergruppen der Einwohner*innen des antiken Griechenland. Und eins der Features, das sie in besonderer Weise auszeichnete, war ihr Umgang mit Geschlechterklischees und -rollen. Vor allem im Vergleich zu Athen fällt auf, dass Frauen in den dorischen Gesellschaften eine deutlich freiere Stellung einnahmen.
Sparta und die Nachbarn – ein schwieriges Verhältnis
Der Stadtstaat Sparta war – das kann man ruhigen Gewissens sagen – eine ziemlich kriegerisch geprägte Gesellschaft. Das hat was mit der langen Geschichte der Stadt zu tun und mit der Sozialstruktur, die dort in klassischer Zeit herrschte. Da gibt’s so ein paar Schlagwörter, die man vielleicht ganz dunkel noch aus dem Geschichtsunterricht der sechsten Klasse kennt: Heloten, Periöken, irgendwas mit ausgesetzten Babys und der Ermordung von Sklaven.
Manches davon ist falsch oder übertrieben, manches kommt der historischen Wahrheit durchaus nahe. Es gab in Sparta vor allem eine sehr große Anzahl von Unfreien, also Personen, die wie Sklav*innen behandelt wurden.
Diese Gruppe von Unterdrückten war so groß und die Unterdrückung an sich so gewaltsam, dass man verständlicherweise dauernd einen Aufstand fürchten mussten. Das war die eine große Sorge der spartanischen Oberschicht. Sie reagierte auf diesen Umstand vor allem damit, dass Militär und Militärdienste eine sehr große Rolle im gesellschaftlichen Leben einnahmen.
Bei diesen Unfreien handelte es sich größtenteils um unterworfene Völker und Einwohner*innen aus der Region um Sparta herum. Dementsprechend schlecht waren viele Menschen auf der ganzen Halbinsel Peloponnes auf Sparta zu sprechen. Eine der Städte, die Spartas Eroberungs- und Unterwerfungsversuchen aber immer wieder standgehalten hatte, war Argos, also die Heimatstadt von Telesilla.
Auftritt der Powerfrauen
Die Kriege, die von Sparta ausgingen, wurden aber natürlich nicht aus reiner Mordlust geführt. Für die spartanische Oberschicht war es essentiell, immer ausreichend Arbeitssklav*innen zur Verfügung zu haben. Darin ähnelte die spartanische Gesellschaft ein wenig der späteren römischen. Ein kontinuierlicher Nachschub war notwendig, da sonst das gesamte wirtschaftliche Gefüge in Gefahr war.
Im Jahr 510 v. Chr. versuchten der spartanische König Kleomenes (und sein Kollege Demaratos), die Stadt zu erobern. Es gelang Kleomenes, den Argivern eine empfindliche Niederlage beizubringen. Ein Teil der argivischen Soldaten flüchtete in einen Wald. Doch Kleomenes machte kurzen Prozess und ließ den Wald einfach anzünden, woraufhin auch die restlichen argivischen Soldaten starben oder in Gefangenschaft gerieten.
Damit wäre die Stadt Argos erledigt gewesen, wenn es da nicht eine Frau namens Telesilla gegeben hätte. Sie mobilisierte alles, was die Stadt noch aufbieten konnte: Sklav*innen, Kinder und Jugendliche sowie Frauen. Sie besetzen die Stadtmauern, kratzten alles an Waffen zusammen, was sie in den Häusern und Tempeln noch finden konnten, und traten so den Spartanern entgegen.
Sieg der Powerfrauen
Mit lautem Gebrüll stürmten die spartanischen Soldaten auf dieses letzte Aufgebot zu. Aber Telesilla und ihre Mitkämpfer*innen wichen keinen Schritt zurück und kämpften. König Kleomenes war beeindruckt. Er erkannte, dass ein Sieg über eine Horde Frauen und Sklav*innen kein „echter“ Sieg wäre. Sollte er eine Niederlage erleiden, wäre das sogar noch schlimmer: Es wäre eine Schande. Er beschloss, den Kampf abzubrechen und sich zurückzuziehen.
Mit diesem Sieg der Argiver*innen erfüllte sich eine alte Prophezeiung. Das Orakel von Delphi hatte nämlich geweissagt, dass eines Tages „das Weibliche das Männliche besiegen“ und Argos so großen Ruhm gewinnen werde.
Von da an feierten die Argiver*innen jährlich ein Fest zum Andenken an diesen großen Erfolg, die so genannten „Hybristika“. Im Rahmen dieses Festes war es unter anderem üblich, dass Frauen Männerkleidung anlegten und umgekehrt. So jedenfalls berichten uns Pausanias2 und (ähnlich) Plutarch3 die Geschichte. Aber können wir das alles so glauben?
Zuerst einmal: Die Geschichte ist in sich schlüssig. Die Begründung, weshalb Kleomenes den Krieg am Ende abbricht, klingt für uns heute sexistisch (und klassistisch). Aber gut, Antike halt. Und dass die Frauen in der Region um Sparta und Argos sehr wehrhaft waren, das wissen wir doch, oder?
Zu schön um wahr zu sein?
Nein, das wissen wir so leider nicht. Was die ganze Sache verdächtig macht, ist die Quellenlage. Wer berichtet uns nämlich von Telesillas Sieg vor Argos? Richtig, zwei Männer, die beide mehr als ein halbes Jahrtausend später lebten und außerdem die Welt sehr stark durch die athenische Brille betrachteten.
Und das führt zu einem Aspekt, der uns beim Lesen heute ziemlich durchgeht. Für uns ist Telesilla, die heldenhaft ihre Stadt verteidigt, eine positive Figur. Ein Leser im antiken Athen hätte das aber anders gesehen. Frauen, die ihre vorgegebene Geschlechterrolle verlassen und in voller Montur in den Kampf ziehen? Das war etwas Ungeheuerliches. Etwas, was Angst machte.
Es ist schon irgendwie bezeichnend: Die Frauen in Aristophanes’ Komödie wählen die Waffe, die ihnen gemäß der athenischen Gesellschaftsordnung am ehesten zukommt: den Sexstreik. Dass Frauen wirklich kämpfen, das hätte man in Athen nicht lustig gefunden.
Das bedeutet: Diese Geschichte transportiert aus antiker athenischer Sicht ganz schön viele negative Vibes über die Gesellschaftsstrukturen in Sparta, Argos und Umgebung. Aber es gibt da ja noch jemanden, der die Geschichte kannte, und nicht aus Athen stammte.
Was sagt eigentlich Onkel Herodot dazu?
Herodot schrieb im 5. Jahrhundert vor Christus ein Werk über die Perserkriege. Darin beschreibt er aber auch immer wieder die Geschichte, Traditionen, Gesellschaften und Eigenheiten der von den Perserkriegen mittelbar oder unmittelbar beteiligten Völker, Städte und Staaten. Man könnte sein Werk auch fast als Panorama der Antike bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts betrachten.
Und Volltreffer: Auch bei ihm finden wir die Geschichte von der versuchten Eroberung der Stadt Argos durch König Kleomenes.4 Auch Herodot berichtet von der Schlacht und der Flucht der argivischen Soldaten in den Wald. Und auch hier finden wir die Geschichte, dass Kleomenes daraufhin den Wald anzünden ließ.
Aber danach geht es etwas anders weiter: Kleomenes erfährt, dass es sich um einen heiligen Hain des Gottes Apoll handle. Das bedeutet, das kleine Wäldchen ist ein heiliger Ort. So was zündet man nicht einfach an. Das wäre in etwa so, als würde man heute eine Kirche oder eine Moschee anzünden. Kommt nicht gut.
Jedenfalls ist die Angst vor einem religiösen Frevel bei Herodot der Grund dafür, dass Kleomenes die Aktion abbricht und nach Hause abzieht. (Ob er übrigens vorher den Wald noch irgendwie löschte, sagt uns Herodot nicht.)
Was spricht nun für Herodots Version und was dagegen? Irgendwie macht er uns die schöne Geschichten von den Powerfrauen ja ziemlich kaputt. Für ihn sprechen zwei Tatsachen: Er lebte deutlich näher an den Ereignissen und schrieb wohl so etwa 60 Jahre danach. Und dann gibt’s da noch eine andere Sache.
Wäre Herodot die Geschichte von Telesilla und dem heldenhaften Kampf zu Ohren gekommen, er hätte sie garantiert in sein Werk eingebunden. Ja, das ist spekulativ, aber glaubt mir: Lest einmal Herodot, und ihr werdet sehen, dass er sich wirklich keine außergewöhnliche Anekdote entgehen lässt. Der Mann war schon ein bisschen sensationsgeil.
Wem soll man jetzt glauben?
Auch Herodots Version bleibt nicht ganz ohne Fragezeichen. So ganz nachvollziehbar ist auch der Rückzug aus Gottesfurcht nicht unbedingt. Denn das Abfackeln des Wäldchens ist eine Sache. Trotzdem hätte er die Stadt Argos doch trotzdem weiter belagern können. Die Chancen standen ja schließlich gut: Die Soldaten sitzen alle verschreckt im Wald, die Stadt liegt offen da.
Dieses historische Rätsel werden wir hier und jetzt nicht wirklich lösen können. Aber wir können festhalten, dass die Geschichte von Telesillas heldenhaftem Kampf, die erst ein halbes Jahrtausend nach den Ereignissen auftaucht, problematisch ist. Sie passt einfach zu gut zu den sonstigen übertriebenen Quellen zu Frauen in den dorischen Städten auf der Peloponnes.
Eine wesentlich ältere Quelle, nämlich Herodot, kennt diese Variante wider Erwarten nicht und bietet stattdessen eine Version, die zwar Fragen offen lässt, aber nicht dem Verdacht ausgesetzt ist, gängige athenische Klischees wiederzugeben.
Wer war Telesilla denn dann wirklich?
Die Forschung hat eine mögliche Lösung für das Telesilla-Problem herausgearbeitet. Diese Lösung hängt mit der Betätigung zusammen, der sie tatsächlich nachgegangen ist. Und das kommt jetzt vielleicht etwas unerwartet: Sie war Dichterin.
Ja, tatsächlich: Telesilla war in der Antike eine berühmte und geachtete Lyrikerin.5 Das bedeutet, sie schrieb Lieder und Gedichte, die angeblich vor allem bei Frauen sehr beliebt waren.6
Und dabei scheint sie so kreativ gewesen zu sein, dass sie sogar ein eigenes Versmaß entwickelte, nämlich den so genannten „Telesilleus“. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Bauform für lyrische Verse. Wenn man das mit modernen Ausdrücken begreiflich machen möchte, könnte man vielleicht sagen, sie entwickelte eine Art charakteristischen Rhythmus oder Takt für ihre Lieder.
Der Verdacht liegt nahe, dass hier eine nachträgliche Vermischung von historischen Tatsachen stattgefunden hat: der vergebliche Eroberungsversuch durch Sparta und eine etwa zur selben Zeit lebende argivische Dichterin. Wenn man dann noch das verzerrte Bild hinzunimmt, dass außerhalb der Peloponnes von den dorischen Frauen kursierte, dann fügt sich eins zum anderen.
Von der Powerfrau zur Trümmerdichterin
Und was hat sie so gedichtet? Gute Frage. Da sind wir beim traurigen Zustand der früh-griechischen Lyrik angekommen. Das ist nämlich ein einziger Trümmerhaufen. Viele dichterische Werke, die nicht in Athen und/oder die in relativ frühen Phasen der griechischen Geschichte entstanden, sind nach der Antike verloren gegangen.
Selbst große Dichterinnen wie Sappho blieben davon nicht verschont. Dabei hatte die im Vergleich noch Glück: Von ihr gibt es immerhin noch einige Fragmente. Von Telesilla haben wir noch vier einzelne Wörter und genau zwei Verse. Ja wirklich.
Und dass wir überhaupt noch was von ihr haben, ist antiken Wissenschaftlern zu verdanken, die in ihren Werken an einigen Stellen Telesilla zitieren. Das taten sie beispielsweise, weil sie ab und zu einen besonderen Ausdruck verwendete, der sonst nicht vorkam. So kommen wir heute an die vier einzelnen Wörter von ihr.
Im zweiten Jahrhundert nach Christus, also rund 700 Jahre nach Telesillas Tod, verfasste Hephaistion in Alexandria ein Handbuch der Verslehre. Und darin wird man von ihm wie folgt aufgeklärt:
ἔστι τοίνυν ἐπίσημα ἐν τῷ ἰωνικῷ πενθημιμέρῃ μὲν τὰ τοιαῦτα, οἷς Τελέσιλλα ἐχρήσατο· τᾷδ’ Ἄρτεμις, ὦ κόραι φεύγοισα τὸν Ἀλφέον
Es gibt ein bekanntes Beispiel für einen Ioniker [ein bestimmtes Versmaß, Anm. d. Verf.], bestehend aus zweieinhalb Metra, den Telesilla verwendet hat: Hier, ihr Mädchen, (seht ihr) Artemis, wie sie vor Alpheos flieht.
Hephaistion, Encheiridion 67
Das ist alles. Das ist (abgesehen von den vier einzelnen Wörtern) das Gesamtwerk der Telesilla, soweit erhalten.7
Was von Telesilla bleibt
Wenn man das alles zusammennimmt, ist es kein Wunder, dass heute niemand mehr Telesillas Namen kennt. Noch nicht mal innerhalb der Klassischen Philologie. Man könnte eine Umfrage unter Student*innen an verschiedenen Unis starten und würde vermutlich nur ratlose Gesichter sehen, wenn man sie nach Telesilla fragen würde.
Aber eigentlich wird sie damit ein bisschen unterschätzt, denn im Geheimen hat sie es dann doch geschafft, der Welt etwas zu hinterlassen. Viele Verse der griechischen Komödie sind nämlich in so genannten Telesilleen abgefasst. Ihr Versmaß hatte also eine gewisse Nachwirkung. Wobei das wiederum zu der Vermutung geführt hat, dass sie vielleicht nicht direkt die Erfinderin des Versmaßes war, sondern es nur populär gemacht hat. Aber das soll uns hier nicht schon wieder die schöne Geschichte kaputtmachen. Steve Jobs hat ja auch das Smartphone nicht erfunden. Also ist Telesilla halt wenigstens der Steve Jobs der antiken Versmaße.
Und immerhin war sie in der Antike so bekannt, dass sie ihren festen Platz in einer historischen Legende erlangt hat. Und auch wenn sich die Geschichte so nicht zugetragen haben dürfte, lädt sie doch zu einem spannenden Streifzug durch die Antike ein. Und das ist doch auch was.
- Aristophanes, Lysistrate 78-84 ↩
- Pausanias 2,20,8-10 ↩
- Plutarch, Moralia (Mulierum Virtus), 245c-f ↩
- Herodot VI, 77-83 ↩
- Pausanias 2,20,8 ↩
- Plutarch Moralia (Mulierum Virtus), 245c-d ↩
- Kleine Ergänzung an der Stelle für die Fachleute: Am Asklepios-Heiligtum in Epidaurus wurde eine Versinschrift aus dem 3.-4. Jhd. n. Chr. ausgegraben, ebenfalls in Telesilleen. Sprache und Gestaltung ließen vermuten, dass auch dieser Text vielleicht von Telesilla stammen könnte. Das wäre aber wirklich extrem schwer zu beweisen. In der Forschung geht man etwas vorsichtiger davon aus, dass dieser Text von ihr beeinflusst worden sein könnte oder nach dem Muster ihrer Dichtung verfasst worden sein könnte. Man findet das Ding hier: IG IV 12, 1929, Nr. 131 ↩
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