Wer hat den besseren Sex? | Tiresias, der antike Seher

Tiresias nimmt in zahlreichen Mythen und Legenden der griechischen und römischen Sagenwelt eine Schlüsselrolle ein und kann wohl mit Recht als eine der wandelbarsten Figuren im Repertoire der Mythologie gelten. Er wurde nicht nur viele hundert Jahre alt, sondern klärte nebenbei auch noch eine eine der brennendsten Streitfragen im Krieg der Geschlechter entscheiden konnte, nämlich ob nun Frauen oder Männer den besseren Sex haben.

Dies wird eine kleine Geschichte über Flexibilität und Wandelbarkeit, so viel sei schon mal zu Beginn gesagt. Aber nicht nur Tiresias als Figur der Mythologie war äußerst wandelbar, sondern auch die Überlieferung seiner Geschichte, von der es unterschiedliche Varianten gibt. Die folgende Geschichte ist also nur eine von mehreren Versionen, die in der Antike zirkulierten, und dazu noch aus mehreren Quellen zusammengebaut. 1 Es gibt keine zusammenhängende Bearbeitung des Tiresias-Stoffs. Vielmehr taucht die Figur immer mal wieder in zahlreichen der ganz großen Geschichten als Nebenfigur auf. Das ist auf der einen Seite schade, weil Tiresias eine sehr spannende Person ist, andererseits macht ihn das auch ein wenig geheimnisvoll. 

Tiresias war Thebaner. Zumindest gehen wir davon aus, denn seine Geschichte ist eng mit der des thebanischen Königshaus verbunden. Theben (nicht das ägyptische, sondern das in Griechenland) war in der griechischen Geschichte hinter Athen und Sparta so etwas wie die ewige Drittplatzierte. 

Der deutsche Landschaftsmaler Carl Rottmann fertigte im Rahmen seines „Griechenland-Zyklus“ diese Ansicht Thebens im Jahr 1842 an. (gemeinfrei)

Theben: dunkle Anfänge einer mythischen Stadt 

Wir wissen, dass die Stadt in der sehr frühen griechischen Geschichte eine sehr große Rolle gespielt hat. Das hat mit Sicherheit auch mit ihrer Lage mitten in Griechenland, etwa 50 km nördlich von Athen, zu tun. Die gewaltigen Festungsmauern der Kadmeia, wie die Königsburg von Theben hieß, sind ein Zeugnis dafür, dass die Stadt eine gewisse Bedeutung hatte. Homer verpasste der Stadt in seinen Texten regelmäßig das Beiwort ἑπτάπυλοι (heptápyloi), was „siebentorig“ bedeutet.2 Demnach war die Stadt also so groß, dass sie sieben  Tore besaß. Die Zahl muss man etwas mit Vorsicht genießen, denn auffälligerweise gab es in der Antike viele Dinge siebenfach: Sieben Weise, sieben Weltwunder, sieben Weltmeere.

Die Sieben war für Griechen und Römer eine besondere Zahl. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Theben nicht gerade ausgerechnet sieben Tore besaß. Eher will uns Homer damit sagen, dass es einfach mehrere waren und die Stadt recht groß war. Dabei sprechen wir aber über die Zeit vor 1200 v. Chr., also eine Zeit, die für uns historisch gesehen ziemlich im Dunkeln liegt. 

In der so genannten historischen Zeit, also der Zeitspanne ab ca. 800 oder 700 v. Chr., die wir etwas besser fassen können, hat Theben nicht mehr allzu viel gerissen. 507 bekriegten sich die Thebaner mit den Athenern und wurden besiegt. In den Perserkriegen kurz danach setzten sie aufs falsche Pferd und verbündeten sich mit den Persern, was auf Jahrzehnte hinaus ihren Ruf ruinierte. Im Peloponnesischen Krieg standen sie zwar auf der Seite Spartas, konnten aber aus dem Sieg nicht wirklich Kapital schlagen. Es gab mal eine kurze Phase, in der Theben tatsächlich zur führenden Macht in Griechenland aufstieg, aber die dauerte nur einige wenige Jahre (371-363). Im Jahr 336 war der Ofen dann erst einmal ganz aus, als Alexander der Große Theben niederbrannte.   

Immerhin konnte Theben auf eine ruhmvolle und legendenhafte Vergangenheit verweisen. Und das nicht zu knapp: Bei den antiken Griech*innen rief allein der Name „Theben“ gleich ein ganzes Arsenal an Assoziationen wach. Im Zentrum aller Geschichten, die sich um die Frühzeit der Stadt ranken, steht das Königshaus der Labdakiden, also der Nachkommen des Königs Labdakos, mit ihrem berühmtesten Vertreter Ödipus. 

Die Labdakiden: eine schrecklich verfluchte Familie

Antigone stützt ihren Vater Ödipus, der sich inzwischen die Augen ausgestochen und seine Heimatstadt verlassen hat. – Gemälde von Per Gabriel Wickenberg, 1833 (gemeinfrei)

Die Labdakiden hatten ein Problem: Sie waren verflucht. Das kam in der Antike schon mal öfter vor. Eine andere verfluchte Familie waren zum Beispiel die Tantaliden.3 Bei den Labdakiden in Theben war die Ursache eine Vergewaltigung, denn Laios, der Sohn des Labdakos, hatte sich an Chrysippos, den Sohn des Pelops herangemacht und ihn entführt.4

Was tut man nun, wenn der eigene Sohn entführt und vergewaltigt wurde und man sich leider in einer vorgeschichtlichen Epoche befindet, die keine staatliche Strafverfolgung kennt? Richtig, man nimmt die Sache selbst in die Hand. Und zu den etwas eleganteren Formen der Selbstjustiz gehört eine ordentliche Verfluchung. Pelops verfluchte Laios: Sein Sohn werde ihn einst töten und die eigene Mutter heiraten.5 Man ahnt schon, auf wen das  hinausläuft: Dieser Sohn war Ödipus.6

Aber nicht nur Laios und Ödipus wurden vom Unglück heimgesucht. Auch die nächste Generation, namentlich Antigone, ihre Schwester Ismene und die beiden Brüder Eteokles und Polyneikes gerieten in den Strudel der Ereignisse. Keiner von ihnen starb eines natürlichen Todes oder wurde auch nur besonders alt. 

Über alle diese Ereignisse gab es in der Antike zahllose mythologische Erzählungen und literarische Bearbeitungen, darunter einige der besten griechische Tragödien: „Die Sieben gegen Theben“ des Aischylos, „König Ödipus“, „Antigone“ und „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles und schließlich die „Phönissen“ des Euripides. Ach ja, die römische Tragödie fällt ja schon mal öfter unter den Tisch: Auch der gute Seneca hat mit dem „Oedipus“ eine lateinische Bearbeitung des Stoffes vorgelegt. 

Tiresias: ein blinder Seher zwischen den Fronten

Und genau in diesem Umfeld, unter Entführern, Vergewaltigern, Bruder-, Vater- und Selbstmörder(inne)n, lebte auch eine unscheinbare, aber sehr wichtige Figur, der es leider selbst nicht vergönnt war, einmal Hauptfigur eines literarischen Werkes zu werden: Der blinde Seher Tiresias. 

Man bemerkt gleich den spielerischen Tiefgang der Figur: Tiresias war blind, aber er konnte sehen, nämlich die Zukunft. Sophokles treibt das in seiner „Ödipus“-Tragödie auf die Spitze, denn Ödipus, im Vollbesitz seines Augenlichts, erkennt nicht, was er getan hat. Er braucht den blinden Seher, der zwar nichts sehen, aber sehen kann, um zu sehen, was er nicht sehen sollte, aber sehen muss. Puh. Es ist nicht umsonst eines der größten Werke der Weltliteratur. Zum Glück müssen wir an dieser Stelle nicht noch mehr ins Detail gehen, es genügt nur zu wissen, dass Tiresias mehrfach in der Ödipus-Geschichte und im Umfeld dieser Sage eine wichtige Funktion einnimmt, da er in die Zukunft sehen und den Menschen entsprechende Hinweise und Warnungen übermitteln kann. 

Zu diesem Zeitpunkt ist Tiresias aber bereits ein älterer und betagter Herr. Den wirklich spannenden Teil seines Lebens hat er da schon hinter sich. 

Zwei Schlangen und ein Geschlechtswechsel 

Ein ziemlich dynamischer Tiresias prügelt auf die Schlangen ein. – Stich von Johann Ulrich Krauss, ca. 1690 (gemeinfrei)

Wie alt Tiresias war, als sich seine beiden Geschlechtswechsel ereigneten, geht aus den mythologischen Erzählungen nicht hervor. Geschlechtswechsel? Ja, richtig gelesen. Was unsere moderne Gesellschaft oftmals immer noch vor unerklärliche Herausforderungen stellt, war in der Zeit des griechischen Mythos problemlos möglich. Aber fangen wir vorne an. 

Allzu alt kann Tiresias nicht gewesen sein, als er bei einer Wanderung im Wald zwei Schlangen begegnete, die offenbar kopulierten. Er stieß sie mit seinem Stock, sei  es aus Unachtsamkeit oder aus Furcht, dass sei ihn beißen könnten. Doch er hatte nicht mit einer besondern Kraft gerechnet, die den Schlangen innewohnte, denn kaum hatte er sie mit seinem Stock verletzt, verwandelte sich Tiresias in eine Frau. 

Ob das für ihn nun ein Glück oder ein Unglück war, ist nicht überliefert. Aber immerhin fand er sich mit der Situation ab und blieb für sieben Jahre eine Frau.7 Erst dann begegnete er erneut einem Paar Schlangen und wiederholte das, was er sieben Jahre zuvor getan hatte. Und, wie er vermutet hatte, wurde er auf diesem Weg wieder zu einem Mann.8

Seine Verwandlung vom Mann zur Frau und wieder zurück qualifizierte Tiresias jedoch für eine Entscheidung der besonderen Art, denn der oberste Göttervater Zeus und seine Gattin Hera gerieten in eine Diskussion darüber, ob nun Männer oder Frauen mehr Spaß am Sex hätten. Das Ganze mag wieder einmal ein Beispiel sein für den etwas merkwürdigen Humor griechischer Göttinnen und Götter. Denn diese Diskussion wird eindeutig als nicht ganz ernsthaft beschrieben, hatte aber für den armen Tiresias ziemlich ernste Folgen. 

Wer hat denn nun den besseren Sex?

Man kennt das: Man streitet sich aus Spaß mit seine*m Partner oder seine*r Partner*in. Das Ganze ist ein Spiel, bis die andere Seite plötzlich Recht bekommt. Dann findet man das plötzlich gar nicht mehr so lustig. 

Genauso ging es Hera und Zeus. Sie behauptete, Männer hätten sicherlich mehr Spaß am Sex. Zeus nahm die gegenteilige Position ein und war der Meinung, dass Frauen den Sex mehr genießen würden. Übrigens ist das ja noch heute eine Streitfrage, die gelegentlich unter Freund*innen und nicht selten unter Alkoholeinfluss hitzige Debatten hervorruft. Und auch die Wissenschaft untersucht den menschlichen Orgasmus gelegentlich in dieser Hinsicht. 

Wie praktisch, dass es da jemanden gab, der das wirklich beurteilen konnte. Und so bestellten die beiden Gottheiten Tiresias ein. Er hatte ja sieben Jahre lang als Frau gelebt und war während dieser Zeit offenbar kein Kind von Traurigkeit gewesen. Seine Aussage wäre über jeden Zweifel erhaben. Und die Aussage war eindeutig: Frauen hatten seinem Urteil nach eindeutig den besseren Sex. 

Und wie es so kommen musste, war Heras Stimmung plötzlich gar nicht mehr so heiter. Sie bestrafte Tiresias und schlug ihn mit Blindheit. Das hatte er nun davon. Das wäre eigentlich auch ein schöner Stoff für eine griechische Tragödie gewesen, denn Tiresias befand sich doch in einem geradezu tragischen Konflikt zwischen der Wahrheit und der Angst vor der Bestrafung durch eine rachsüchtige Göttin. Aber für die antiken Schriftsteller war die Thematik dann wohl doch zu uninteressant. 

Zeus jedenfalls war in seiner Meinung bestätigt worden. Zum Ausgleich für die Blindheit erhielt Tiresias von ihm die Gabe, in die Zukunft blicken zu können.9 Und ein außerordentlich langes Leben gab es noch obendrein.10 Das Muster ist übrigens bekannt und kehrt immer mal wieder: Hera ist sauer und bestraft einen Menschen, Zeus versucht im Nachhinein, das Unrecht abzumildern und verteilt ein Geschenk oder eine Gabe zur Wiedergutmachung. Ob das für Tiresias nun wirklich eine Wiedergutmachung war oder nur ein weiterer Schicksalsschlag, darüber schweigen sich die Quellen aus. Immerhin nahm er eine ehrenvolle Position in der weiteren Geschichte ein und war für das thebanische Königshaus von enormer Bedeutung. 

Auch sieben Menschenalter sind irgendwann zu Ende

Der Schriftsteller Hygin weiß zu berichten, dass Tiresias sieben Menschenalter lang lebte.11 Nimmt man mal ein gängiges antikes Menschenleben von 60 Jahren an, wäre er also etwa 420 Jahre alt geworden. Wenn das stimmt und man die Ereignisse im thebanischen Königshaus um die Zeit 1300-1200 v. Chr. datiert, dann hätte Tiresias locker schon die Minoer miterleben können. Er hätte uns vor allem eine Übersetzung des dämlichen Diskos von Phaistos überliefern können, an dem sich die moderne Wissenschaft bis heute die Zähne ausbeißt. Und er hätte doch wissen müssen, dass wir an dem Ding eines Tages mal so verzweifeln würden. Er konnte ja in die Zukunft sehen. Nun ja.

Am Ende jedoch nützte Tiresias seine ganze Vorsehung nichts. Nach den unerfreulichen Ereignissen im Königshaus, dem Tod des Laios, der Selbstblendung des Ödipus, den Selbstmorden der Iokaste und Antigone, der gegenseitigen Ermordung des Eteokles und des Polyneikes und so weiter, musste Tiresias fliehen. 

Auf dem Weg stieß er auf die Quelle Tilphoussa. Weil er Durst hatte, trank Tiresias aus dieser Quelle.12 Was er offenbar nicht wusste, war, dass es sich um eine heilige Quelle handelte, aus der kein Mensch trinken durfte.13 Er starb auf der Stelle. Wie der antike Geograph Strabon berichtet, befand sich sein Grab gleich bei dieser Quelle. 

Tiresias und sein Wirken über den Tod hinaus

Odysseus im Gespräch mit Tiresias. Genau genommen unterhält sich Odysseus nur mit dem Kopf des Tiresias (links unten an seinem Fuß). Ob es sich dabei um eine künstlerische Freiheit handelt ob hier eine andere Version des Mythos eingeflossen ist, die den abgetrennten Kopf erklären könnte, muss offenbleiben. Die beiden anderen Gestalten (Perimedes und Eurylochos) sind ebenfalls tot, bestehen aber nicht nur aus Köpfen. – Attischer rotifiguriger Krater, um 380 v. Chr. (gemeinfrei)

So fand Tiresias nach einem langen und sehr wechselvollen Leben ein eher unrühmliches Ende, bei dem ihn seine Sehergabe offenkundig gewaltig im Stich ließ. Und doch gab er auch nach seinem Tod noch das eine oder andere Gastspiel. 

Als Odysseus in die Totenwelt hinabstieg, begegnete er nicht nur einigen gefallenen Helden aus dem trojanischen Krieg und seiner eigenen Mutter, sondern auch dem Geist des Tiresias, der ihm eine wichtige Warnung mit auf den Weg gab: Er warnte ihn davor, die heiligen Rinder des Gottes Helios anzurühren. Großes Unheil würde ihm und seinen Gefährten drohen, wenn  sie sie schlachteten und äßen. Genützt hat die Warnung leider nichts, aber das ist eine andere Geschichte. 

Aber was sagt uns dieser Tiresias eigentlich heute? Das muss natürlich jede*r für sich selbst beantworten. Frühere Generationen von Philolog*innen, Philosoph*innen und Literaturfreund*innen hat in Tiresias vor allem den weisen Seher betont und das literarische Spiel des Sophokles mit seiner Blindheit und der Erkenntnis des wirklich Wichtigen analysiert. Das ist sicherlich nicht unberechtigt: Wäre die Figur von einem modernen Autor oder einer Autorin konzipiert worden, würde man sich sicherlich als geniale Erfindung bezeichnen. Zumindest wenn man auf diese Art von „Pennywise-der-tanzende-Clown-symbolisiert-eine-traumatische-Kleinstadtkindheit“-Symbolik steht. 

Für uns heute wäre Tiresias vielleicht vor allem durch das Spiel mit dem eigenen Geschlecht und der geschlechtlichen Identität interessant. Denn auch wenn Menschen in der Antike natürlich noch nicht die medizinischen Möglichkeiten hatten, ihr Geschlecht anpassen zu lassen, so waren sie doch fantasiereich genug, sich einen solchen Vorgang vorzustellen und auszumalen. Die Flexibilität im Denken war jedenfalls vorhanden, und das ist mehr, als man von manchen Menschen heute erwarten kann. 

  1. Genau genommen haben wir bei Apollodor, Ovid und Lukian nachgelesen.
  2. Homer, Ilias IV,406
  3. Stichworte: Tantalos, Agamemnon, Iphigenie.
  4. Apollodor, Bibliotheke III,5,5
  5. Herodot V,43
  6. Fun Fact am Rande: Pelops war ein Tantalide. Die waren selbst auch verflucht.
  7. Schon wieder sieben. Nur so nebenbei.
  8. Die gesamte Geschichte findet man – mit kleineren Variationen – bei Ovid, Metamorphosen III,323-338 und Apollodor, Bibliotheke III,6,7,4
  9. Ovid, Metamorphosen III,338
  10. Hygin, Fabulae, Tiresias
  11. Und wieder sieben. Noch mal nur so nebenbei.
  12. Pausanias IX,33,1
  13. Homer, Hymnen III,244-276 und 375-387

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