Der Beginn der Zivilisation? Die Sumerer.

Ihren Namen hat man vielleicht schon mal gehört. Sie gelten als die Begründer der (wahrscheinlich) ersten Zivilisation der Menschheitsgeschichte: die Sumerer. Unser Wissen ist zwar bis heute lückenhaft und voller offener Fragen, aber vielleicht macht gerade das die Sumerer zu einem der faszinierendsten Völker des Altertums. Zeit für einen Überblick. 

In einem Land vor unserer Zeit zwischen zwei Flüssen

Die Sumerer lebten in Mesopotamien, das ist vermutlich gut bekannt. Und gut bekannt ist auch, dass „Mesopotamien“ als „Land zwischen den Flüssen“ übersetzt werden kann, womit der Euphrat und der Tigris gemeint sind. 

Was man auch noch aus der Schule weiß, ist vielleicht, dass es sich beim „Land zwischen den Flüssen“ um eine sehr fruchtbare Schwemmlandebene handelt, die besonders günstig für die Landwirtschaft war. Logisch, dass die Menschen dort sesshaft wurden, Felder anlegten und erste Städte gründeten. 

Auch wenn das alles nicht falsch ist, ist es nur die halbe Wahrheit. Genau genommen besteht „Mesopotamien“ aus mehreren unterschiedlichen Zonen, die sehr unterschiedliche Bedingungen aufwiesen.1 Das sumerische Kernland lag im Süden dieses Gebietes, wo keine künstliche Bewässerung für die Landwirtschaft nötig war. 

Hier ließen sich vor über 6.000 Jahren erstmals Menschen dauerhaft nieder. Wann genau, wissen wir übrigens nicht. Und auch nicht, wie es dazu kam. Warum und wieso Menschen überhaupt sesshaft wurden, ist bis heute nicht geklärt, auch wenn viele Schulbücher etwas Anderes behaupten. Vor allem hat die Forschung immer noch nicht abschließend das Henne-Ei-Problem bei dem Ganzen gelöst: Was war zuerst da? Die Landwirtschaft oder die Sesshaftigkeit?

Vermutlich kann man dieser Frage gar nicht beantworten, weil sie falsch gestellt ist. Das ist eigentlich eine recht banale Erkenntnis, bei der man sich fragen kann, warum sie erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten langsam durchsickert. Landwirtschaft entwickelt sich nicht von jetzt auf gleich. Vermutlich haben schon altsteinzeitliche Jäger und Sammler begonnen, in bescheidenem Ausmaß gezielt bestimmte Pflanzen zu pflegen (um nicht gleich von „züchten“ zu sprechen). Und vermutlich haben auch sie schon zeitweise am selben Ort gelebt. 

Beides, die Entwicklung der Landwirtschaft und die der Sesshaftigkeit, hat man sich also als Prozesse vorzustellen, die über einen sehr langen Zeitraum hinweg abliefen. 

Sie nannten sich „die Leute mit den schwarzen Köpfen“

Woher die Sumerer kamen, ist absolut unbekannt. Die Forschung hat ihr Ursprünge schon praktisch überall im näheren Umfeld vermutet: Sie könnten aus Nordafrika eingewandert sein. Genetische Untersuchungen haben darauf Hinweise ergeben. Andere Untersuchungen verweisen aber auf Nordindien. Der Kaukasus oder Mittelasien kämen auch in Betracht. 

Auch die Sprache der Sumerer hilft nicht weiter, denn wir können sie mit keiner anderen bekannten Sprache in Verbindung bringen. Es handelt sich um eine so genannte „Inselsprache“, die sich deutlich von allen anderen Sprachen der Region unterscheidet, die wir sonst noch so kennen.2

Darstellung einer sumerischen Prinzessin, ca. 2150 v. Chr. (Foto: ALFGRN, CC BY-SA 2.0)

Sie selbst nannten sich übrigens nicht „Sumerer“. Das ist eine spätere Fremdbezeichnung durch die Akkader. Sie bezeichneten sich vielmehr als „Leute mit schwarzen Köpfen“.3 Ob das nun auf eine Herkunft aus Afrika hindeutet? Da sollte man sehr vorsichtig sein. 

Auf jeden Fall können wir als gesichert annehmen, dass die Sumerer zugewandert sind. Sie waren nicht die ersten Menschen in ihrer Region, da ältere Besiedlungen nachgewiesen werden konnten. 

Sesshafte vs. Nomaden

Nach allem, was wir wissen, waren diese ersten Besiedlungen im Zweistromland nach einem erkennbaren Muster aufgebaut.4 Sie lagen in der Regel nah an einem Fluss. Um eine Hauptsiedlung (oder Stadt) herum verteilten sich einige Dörfer, die mit der Stadt politisch verbunden waren. Dazwischen erstreckte sich die landwirtschaftliche Nutzfläche, und außerhalb dieses Kreises von Einzelsiedlungen – da lag die Wildnis. 

Wildnis bedeutet hier: eine Fläche, die kaum oder gar nicht landwirtschaftlich genutzt werden konnte. Es handelte sich um eine einigermaßen karge Steppe oder Halbwüste. Das war das Reich der Nomaden. 

Das ist ganz interessant, und das gleich aus mehreren Gründen. Es zeigt, dass das Bild von Sesshaftigkeit, wie es auch heute noch oft anzutreffen ist, nicht ganz korrekt ist. Es ist eben nicht so, dass die Sumerer Städte gründeten und Landwirtschaft betrieben und auf einmal alle Menschen der Region in Häusern lebten. Beide Lebensformen, die nomadische und die sesshafte, existierten über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende, parallel. 

Und was noch interessanter ist: Konflikte zwischen diesen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen lassen sich nicht nachweisen. Im Gegenteil. Es ist wahrscheinlicher, dass beide Gruppen voneinander profitierten, denn die Nomaden waren prädestiniert dafür, Handel zu treiben und Viehherden zu hüten. 

Umgekehrt erzeugte die Landwirtschaft in den Städten einen Überschuss an Nahrungsmitteln. Ein Austausch von Gütern und Waren zwischen den Gruppen bot beiden einen Vorteil. 

Friede, Freude, Eierkuchen?

Dass die Welt damals absolut friedlich war, ist aber natürlich trotzdem eine Illusion. Dass es Konkurrenz (z. B. um Land) gab, ist mehr als wahrscheinlich. Zudem machen die sumerischen Textzeugnisse sehr deutlich, wie überlegen sich die stadtbewohnenden, sesshaften Menschen fühlten. Es galt als Ausweis von Zivilisation, fest an einem Ort zu leben. Eigentlich galt man sogar nur dann überhaupt als „Mensch“. 

Das kann man jetzt sehen wie man will: Die Städte und die städtische Zivilisation übten auf die Menschen eine große Anziehung aus. Immer mehr Nomaden gaben im Laufe der Zeit die Lebensweise auf und siedelten sich ebenfalls in den Städten an. 

Woher wir das wissen? Das ist ein sehr smarter Move der Wissenschaft. Die nomadischen Stämme sprachen semitische Sprachen, die also mit dem modernen Hebräisch und Arabisch ganz entfernt verwandt waren. Man hat festgestellt, dass in den sumerischen Keilschrifttafeln mit der Zeit immer mehr semitische Eigennamen erwähnt werden. Daraus kann man schließen: Es gab einen immer größer werdenden Anteil an Semit*innen an der Bevölkerung der Städte.5

Stereotype, die sich über die Jahrtausende kaum verändert haben

Welche Klischees kennt ihr so über Rednecks? Also die Leute, die irgendwo in einem Dorf im tiefsten Süden der USA leben. In den so genannten „fly over states“, also den Staaten, über die man immer nur drüber hinwegfliegt, wenn man in den USA von Küste zu Küste will? 

Ich vermute mal, da kommen euch jetzt so Stichworte in den Kopf wie „roh“, „ungepflegt“, „unzivilisiert“, „hinterwäldlerisch“… Neu ist das alles nicht. Die Stadt als Sinnbild für Zivilisation und das Land als Hort der Unkultur – dieses Bild gab es schon vor fünf- oder sechstausend Jahren. 

Und damit sind wir beim Gilgamesch-Epos, dem einzigen heute noch (oder wieder) wirklich bekannten Stück sumerischer Literatur. Es handelt vom gleichnamigen König und seinem Freund Enkidu. Und der ist eigentlich ein Steppenmensch. 

Das Epos beschreibt, wie Enkidu bei den Gazellen lebt, Gras isst und mit ihnen Wasser aus einem Tümpel trinkt. Auch sprechen kann er nicht. Und ziemlich haarig ist er auch. Die Gottheiten beschließen, dass er ein Mensch werden soll und schicken eine Hure. 

Ja, tatsächlich. Also, genau genommen handelt es sich um eine Hierodule, eine Tempeldienerin, zu deren Dienst auch sexuelle Dienstleistungen gehören. Dazu könnte man hier noch mehr schreiben, aber nehmen wir das einfach mal so hin. 

Sie schläft sieben Tage lang mit Enkidu, wodurch er Verstand und Sprechfähigkeit gewinnt. Hirten, die am Rande der Stadt leben, bringen ihm bei, Brot zu essen und Bier zu trinken. Außerdem wird er rasiert und bekommt einen Haarschnitt verpasst. So begegnet er Gilgamesch, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbinden wird.6 

Zylindersiegel mit Abbildungen mehrerer Gottheiten: Aus den Schultern der geflügelten Kriegsgöttin Innana ganz links wachsen Schilde. Der Sonnengott Utu, aus dessen Schultern Sonnenstrahlen hervorbrechen, schneidet gerade die Berge entzwei, um aufsteigen zu können und einen neuen Tag zu beginnen. Recht neben ihm ist Enki zu sehen, der Gott der Unterweltsflüsse und der Weisheit. Aus seinen Schultern entspringen die Flüsse Euphrat und Tigris (sogar mit kleinen Fischen). Ganz rechts steht sein Aufseher ( ein sogenannter „Sukkal“) Isimud. Alle Gottheiten sind durch ihre spitzen Hütze mit den Hörnern links und rechts gekennzeichnet. (sog. „Adda-Siegel“, Fundort unbekannt, ca. 2300 v. Chr., Fotograf unbekannt, gemeinfrei)

Vom Tier zum Menschen?

Der Text verdeutlicht sehr gut, wie die Stadtmenschen damals über das nomadische Leben in der Steppe dachten: Es war für sie das Leben eines Tiers, ohne Verstand, ohne Sprache, dreckig und ungepflegt.7

Aber, das soll an der Stelle auch nicht unerwähnt bleiben: Enkidu verliert auch seine Verbindung mit der Natur. Tiere, die ihm zuvor vertraut hatten, ergreifen nun die Flucht. Der Mensch bezahlt also für seine „Menschwerdung“ auch einen Preis: Er ist nicht mehr eins mit der Natur.8 Nun soll mal einer sagen, ein Jahrtausende altes Werk habe keine aktuelle Brisanz mehr. 

Ach ja, und eine Sache will ich auch herausstellen, einfach, weil ich sie persönlich lustig finde: Enkidu wird zum Menschen, weil er sieben Tage Sex hat. Aber das mag nun jede*r für sich selbst interpretieren und daraus gewisse Lebensweisheiten ableiten. Oder auch nicht. 

Städte sind nicht nur geil

Sesshaft zu sein und in Städten zu leben bedeutete aber natürlich gewaltige Veränderungen in vielen Bereichen des menschlichen Lebens. Man kann, wie erwähnt, zum Beispiel Bier trinken. Wenn man es sich mal so überlegt: Sich auf ner Party abschießen und nachher strunzhackedicht beim Kumpel in den Vorgarten kotzen, das war ein Privileg, das nomadischen Jäger-und-Sammler-Kulturen eher fehlte. Wobei man drauf wetten kann, dass die auch so ihre Rauschmittelchen kannten. 

Mag sein, dass der Alkoholkonsum erst in städtischen Gesellschaften seine volle Wirkung entfaltete, aber das war natürlich nur ein winziger Teil der Veränderungen. Spezialisierung und Arbeitsteilung wäre ein weiterer Teil. Die einen bestellen die Felder und erzeugen einen landwirtschaftlichen Überschuss, die anderen können Kleidung anfertigen, Häuser bauen, Werkzeuge herstellen und was einem sonst noch so alles einfallen könnte. 

Aber auch noch eine andere Sache kommt bei städtischen Gesellschaften ins Spiel: Es gibt nun auch erstmals eine größere Ungleichverteilung von Besitz. Überhaupt gibt es erstmals nennenswerten Besitz. Eine Person in einer Jäger-und-Sammler-Kultur besitzt im Großen und Ganzen das, was sie bei sich trägt. Aber ein*e Stadtbewohner*in kann ein Grundstück besitzen, ein Haus und ganz schön viel Kram, der sich in diesem Haus befindet. Und wir wissen nicht erst seit Marie Kondō, das sich da auch ganz schön viel Scheiß anhäufen kann.

Praktisch Hand in Hand mit ungleich verteiltem Besitz, der Spezialisierung und der Arbeitsteilung gehen auch ausgeprägte gesellschaftliche Hierarchien. Erstmals gibt es eine wohlhabende Oberschicht, es gibt Herrschende, es gibt die Leute, deren Arbeit nicht gewürdigt wird, und die ganz Armen, die irgendwo am Stadtrand in einer Schrottimmobilie leben. Auch dieses Erbe schleppen wir nicht erst seit gestern mit uns rum. 

Alle diese Veränderungen und Entwicklungen fanden in der so genannten „Uruk-Periode“ statt, benannt nach der Stadt „Uruk“, die zu dieser Zeit eine gewisse Dominanz im Süden Mesopotamiens hatte. Zeitlich befinden wir uns da übrigens so um 3800-3200 vor Christus. 

Von Tempeln und Priestern

Was uns jetzt heute etwas komisch vorkommt: An der Spitze der frühen sumerischen Städte standen Priester. Das hat aber eine gewisse Logik, dann die hatten den direkten „Draht“ zu den Gottheiten. Sie waren diejenigen, die ihren Willen erfragen und daraus Handlungsanweisungen für die Gemeinschaft ableiten konnten. Dass religiöse Autoritäten eine besondere (durchaus auch politische) Bedeutung haben, das ist auch hierzulande noch gar nicht so lange her. 

In den frühen sumerischen Städten hatten die Priester aber eine noch viel stärkere Bedeutung, als wir das aus der jüngeren europäischen Geschichte kennen. Städte waren durch eine sogenannte „Tempelwirtschaft“ geprägt. Das bedeutet: Die dortigen Priester kontrollierten praktisch alles. Sie verteilten das Land und ebenso die Erträge des Landes. Sie waren für die Diplomatie zuständig (zum Beispiel im Kontakt mit Nachbarstädten) und kontrollierten den Handel.9

Aber, und das ist an der Stelle wichtig zu erwähnen, weil man oft noch hört oder liest, die Tempelwirtschaft sei typisch für die sumerische Kultur gewesen: Wir reden hier über eine frühe Phase der sumerischen Geschichte. Später (etwa ab Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus) trat neben die Priester ein weltlicher Herrscher (nennen wir ihn einfach mal „König“), dem Schritt für Schritt immer mehr Aufgaben zufielen, die zuvor die Priester übernommen hatten. 

Kalksteintäfelchen aus Uruk mit einer frühen Vorform der Keilschrift (4. Jahrtausend v. Chr., Foto: Mbzt, CC BY-SA 3.0)

Bei so viel Verwaltungstätigkeit ist eine Sache ziemlich praktisch: Schrift. Die entwickelte sich vermutlich genau hier, in den Tempeln. Ursprünglich handelte es sich um reine Bildzeichen, die mithilfe eines Schreibgriffels in weichen Ton gedrückt wurden. Der Ton trocknete, und man hatte ein (einigermaßen) haltbares Schriftstück erzeugt. Da man natürlich auf diese Weise keine besonders naturgetreuen Darstellungen erreichen kann, wurden die Zeichen im Laufe der Zeit immer abstrakter. Die Keilschrift war entstanden und blieb über Jahrtausende das beherrschende Schriftsystem im ganzen Vorderen Orient. 

Wenn du ein Haus gebaut hast und es bei Regen einfach schmilzt

Dass die Sumerer (und auch die späteren Bewohner*innen Mesopotamiens) auf Tontafeln geschrieben haben, hat natürlich einen Grund, nämlich: Was hätten sie sonst nehmen sollen?10 Und da sind wir wieder bei geographischen Zonen, in die man Mesopotamien unterteilen kann. 

Im Süden, wo die sumerische Kultur entstand, gab es so gut wie keine Steine. Und auch fast gar kein Holz. Nur Gestrüpp und so ein paar kümmerliche Palmen, mit deren Holz man nicht besonders viel anfangen kann. Nur zwei Sachen gab es massenhaft: Lehm und Ton. 

Und deswegen fertigten die Sumerer auch alles Mögliche aus Ton an: Schalen, Töpfe, Gefäße, Schreibtafeln und Häuser. Das ist auch ein Problem für die Archäologie, denn Ton und Lehm sind jetzt nicht gerade als die haltbarsten Baustoffe bekannt. An vielen Stellen, an denen sich früher ein Dorf, eine Stadt oder ein Gebäude befand, finden wir heute nur noch einen Haufen Staub. 

Im Gesetzeswerk des Hammurabi (der kein Sumerer mehr war und Jahrhunderte nach ihnen lebte) gibt es dann auch eine Stelle, die uns ein ganz neues Verständnis von „Einbrüchen“ lehrt. Im entsprechenden Paragraphen11 wird nämlich deutlich, dass Einbrecher in Mesopotamien offenbar nicht durch die Tür oder durch ein Fenster kamen. Nee, sie brachen einfach die Wände eines Hauses auf. Geht halt, wenn man alles aus Lehm baut. 

Aber in einem Punkt hatten die Menschen der Region offenbar Glück: Regen scheint für sie eher weniger ein Problem gewesen zu sein. Wäre auch eher ungünstig gewesen.  

Erste Imperien

Die sumerische Kultur war eine von Einzelstädten und Stadtstaaten. Es gab zu keiner Zeit (oder fast zu keiner) ein „sumerisches Reich“. Was es aber gab, waren Phasen, in denen die eine oder die andere Stadt die Region politisch und/oder wirtschaftlich dominierte. Anfangs war das die schon erwähnte Stadt Uruk. Einer ihrer Herrscher mit dem klangvollen Namen Lugalzagesi rühmte sich, das „Land zwischen den beiden Meeren“ erobert zu haben.12 Gemeint sind damit das Mittelmeer und der persische Golf. Möglich, dass er damit den ersten, echten Territorialstaat in der Region unter seiner Herrschaft hatte. Falls das stimmt, hatte dieser „Staat“ aber nur wenige Jahre Bestand. 

Viel wahrscheinlicher ist aber, dass der gute Lugalzagesi ein bisschen übertrieben hat, wie es nahöstliche Herrscher des Altertums gerne taten. Vermutlich war es ihm einfach gelungen, Raubzüge im Gebiet bis zum Mittelmeer durchzuführen.13 Aber auch dann wäre er zumindest der erste Herrscher einer sumerischen Stadt gewesen, der über eine größere Anzahl an anderen Städten herrschte. Aber er war dann auch gleich der letzte.

Verwirrung der Völker

Kennt jemand „Die Odyssee“ aus der Asterix-Reihe? Da gibt es diese eine Szene, in der Asterix und Obelix durch die Wüste laufen und nacheinander von Angehörigen etlicher Völker mit Pfeilen beschossen werden, die miteinander aus diesem oder jenem Grund im Clinch liegen. Was uns die Szene sagen soll: Die Geschichte des Alten Orients kann sehr unübersichtlich sein. 

Die Region war zum einen eben schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen, und zum anderen liegt Mesopotamien auch wie auf dem Präsentierteller offen da. Ein Vorgang, der sich in der Geschichte immer wieder abspielte, war, dass ein Volk aus dem nördlichen Zagrosgebirge (im heutigen Iran) in die Region einfiel, sie plünderte oder gleich die Macht dort übernahm. 

So geschah es, als um etwa 2300 v. Chr. zuerst die Assyrer, dann die Gutäer einfielen und die Kontrolle über die sumerischen Städte übernahmen.14 Letztere wurden dann von einer Koalition von Städten nach einigen Jahrzehnten wieder vertrieben, woraufhin eine regelrechte Blütephase der sumerischen Städte einsetzte, die sich archäologisch durch eine rege Bautätigkeit nachweisen lässt.15 Es gibt nur einen Schönheitsfehler: Waren da überhaupt noch wirklich Sumerer am Werk?

Warum das alles kompliziert ist

Wie schon mal weiter oben erwähnt, schließt die Forschung aus der Zunahme semitischer Eigennamen in den Keilschrifttexten, dass der Anteil an Zugezogenen und Zugewanderten in den Städten über die Jahrhunderte immer weiter zunahm. Man kommt hier an den Punkt, an dem man sich ernsthaft fragen muss, von welchem Volk man überhaupt noch spricht, wenn man die Geschichte im südlichen Mesopotamien weiter beschreiben möchte. 

Bis zu Lugalzagesi, dem selbsternannten „Hirten der Völker“, ist das noch recht einfach zu lösen, denn er trug einen sumerischen Namen, stammte aus einer sumerischen Herrscherdynastie und stand auch in einer Tradition sumerischer Herrscher. Abgelöst wurde er von einer assyrischen Herrscherdynastie, auch das ist klar. Und die wiederum von einer kurzen Phase, in der die Gutäer das Sagen hatten. 

Aber die neuen Herren trafen in den Städten auf eine Gesellschaft, in der ohnehin schon Angehörige mehrerer unterschiedlicher Völkerschaften zusammenlebten. Und sie selbst übernahmen die Keilschrift und Elemente der sumerischen Kultur und Kultpraxis. Umgekehrt wurden semitische Sprachen, allen voran das Akkadische, zur Verkehrssprache der gesamten Region. 

Wie beendet man eine Geschichte, die kein Ende hat?

Sofern man die Abstammung der jeweiligen Herrscher zugrundelegt, um das Ende einer Kultur oder eines Volkes zu bestimmen, kann man den Sumerern noch ein kurzes Nachspiel in der sogenannten „Ur-III“ Phase gönnen von etwa 2100-2000 v. Chr. 

Šulgi, der zweite König dieser „dritten sumerischen Dynastie“, lief übrigens den ersten „Marathon“ der Weltgeschichte von Nippur nach Ur.16 Schade, dass das heute nicht mehr zur Allgemeinbildung gehört. Aber auch sonst erlebten die sumerischen Städte einen Aufschwung, der sich vor allem in großen Monumentalbauten bemerkbar machte. Diese dritte sumerische Dynastie konnte sich noch für rund hundert Jahre behaupten, bevor wieder eine Gruppe semitisch geprägter Städte die Herrschaft in der Region übernahm. 

Das waren dann die Elamer und die Amoriter. Nur, um noch so ein paar Völkerbezeichnungen zu droppen. Die Amoriter waren übrigens diejenigen, die die Stadt Babylon zur Weltstadt machten und von da aus dann ab ca. 1800 v. Chr. den Vorderen Orient dominierten. Einer ihrer bekanntesten Herrscher war ein gewisser Hammurabi, von dem das (vermeintlich) älteste Gesetzeswerk der Welt stammt.17

Aber was wurde aus den Sumerern? Einen definitiven Endpunkt für ihre Geschichte kann man wohl einfach nicht setzen. Sie gingen schlicht in der Bevölkerung Mesopotamiens auf, die bis in die Spätantike immer wieder Zu- und Abwanderungen erlebte, wechselnde Reiche und Dynastien, die zu dieser oder jener Zeit die Vorherrschaft ausübten. 

Sumerisch: erstaunlich langlebig

Aber ein Kriterium gibt es dann doch, an dem man kulturelle Entwicklungen gerne festmacht: die Sprache. Aber Spoiler: Auch das klappt nur so mittelmäßig. 

Sumerisch scheint schon um das Jahr 1800 v. Chr. herum nur noch im Rahmen von Kulten oder in Gesetzestexten verwendet worden zu sein. Es gab offenbar keine Muttersprachler*innen mehr. Aber in diesen kultischen und juristischen Zusammenhängen war die Sprache dann erstaunlich zäh, denn die letzten Erwähnungen der Sprache finden sich um das Jahr 100 v. Chr.18

Nur: Was nützt das? Die Sprache war da schon lange zu einer Fremdsprache für alle geworden, die sich mit ihr beschäftigten. Immerhin gab es deswegen auch sehr viele Wörterbücher oder -verzeichnisse, die es der modernen Forschung erleichtert haben, das Sumerische überhaupt entschlüsseln zu können. 

Wie man also die Geschichte der Sumerer beendet, muss jede*r wohl für sich selbst entscheiden. Fest steht, dass sie am Anfang vieler Entwicklungen stehen, die uns bis heute begleiten. Im Guten wie im Schlechten. 

Zum Weiterlesen:

Bartel Hrouda, Mesopotamien. Die antiken Kulturen zwischen Euphrat und Tigris, München 1997 (gut lesbare, knappe Einführung)

Walther Sallaberger, Das Gilgamesch-Epos, München 22013

Nicholas Postgate, Early Mesopotamia: Society and Economy at the Dawn of History. London/New York 2017

Harriet Crawford, Sumer an the Sumerians, Cambridge 22004

Mehr zum Thema

  1. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 1-23
  2. Gábor Zólyomi, Sumerisch, in: Michael P. Streck (Hg.), Sprachen des Alten Orients, Darmstadt 32007, S. 11
  3. zum Beispiel im Gilgamesch Epos, Tafel III, Zeile 104 (jungbabylonische Fassung), am besten nachzulesen hier: Gilgamesch-Epos, aus dem Babylonischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Stefan M. Maul, München 2014
  4. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 15-16
  5. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 16
  6. Walther Sallaberger, Das Gilgamesch-Epos, München 22013, Kapitel „Steppe: Wildnis und Reinheit“
  7. Ulrike Steinert, Aspekte des Menschseins im Alten Mesopotamien, Leiden/Boston 2012, S. 21-28
  8. Später, bei seinem Tod, verflucht er sogar die Personen, die ihn in die Zivilisation gebracht haben, auch die Hure Šamchat, die ihm Sinn und Verstand ermöglicht hatte.
  9. Bartel Hrouda, Mesopotamien. Die antiken Kulturen zwischen Euphrat und Tigris, München 1997, S. 63-64
  10. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 14
  11. § 21, nachzulesen beispielsweise in der frei verfügbaren Edition von L. W. King, London 1913 oder in einer moderneren Ausgabe bei Heinz-Dieter Viel, Der Codex Hammurapi. Keilschrift-Edition mit Übersetzung. Göttingen 2002
  12. Nicholas Postgate, Early Mesopotamia: Society and Economy at the Dawn of History. London/New York 2017, S. 84
  13. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 36-37
  14. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 38-40
  15. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 40-41
  16. Aaron Demsky, Shulgi the Runner: Sumerian – Talmudic Affinities, in: Yitschak Sefati (et al.), „An Experienced Scribe Who Neglects Nothing“ – Ancient Near Eastern Studies in Honor of Jacob Klein. Bethesda 2005, S. 85-97
  17. Harriet Crawford, Sumer and the Sumerians, Cambridge 1991, S. 41
  18. Gábor Zólyomi, Sumerisch, in: Michael P. Streck (Hg.), Sprachen des Alten Orients, Darmstadt 32007, S. 12-13

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Kommentare

Eine Antwort zu „Der Beginn der Zivilisation? Die Sumerer.“

  1. Danke! Super zusammengefasst

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