War Aschenputtel eine Ägypterin?

Jedes Kind kennt das Märchen von Aschenputtel. Und bestimmt haben die allermeisten mal die Cinderella-Verfilmung von Disney gesehen. Natürlich gab es Aschenputtel lange vor Disney. Die Frage, die sich stellt, ist, wie lange vor Disney? War Aschenputtel möglicherweise schon eine antike Ägypterin?

Disney, die Gebrüder Grimm und Perrault

Neben der Disney-Verfilmung ist in Deutschland die bekannteste Version des Märchens die der Gebrüder Grimm, die es 1812 bereits in ihre erste Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen mitaufnahmen. Das Märchen „gehört unter die bekanntesten und wird aller Enden erzählt“ heißt es bereits dort.1 Dahinter folgt dem Ganzen eine Auflistung von Versionen des Märchens aus ganz Europa. 

Noch älter als die Version der Gebrüder Grimm ist die französische Erzählung von Charles Perrault Cendrillion aus dem Jahr 1697. Und auch dort handelt es sich lediglich um die Verschriftlichung einer bereits lange mündlich tradierten Geschichte. Die Frage ist, wo also die Ursprünge von Aschenputtel liegen. Wir würden nicht darüber schreiben, wenn es nicht irgendwas mit Antike zu tun hätte, also müssen die Ursprünge weit, weit in der Vergangenheit liegen.

Das ägyptische Aschenputtel, das dann doch eine Griechin ist

Der mögliche antike Vorläufer dieser Geschichte ist kurz. Aschenputtel heißt dort natürlich auch noch nicht Aschenputtel, sondern Rhodopis. Von ihr wird zweimal berichtet. Einmal bei Herodot,2 der ja immer zu allem irgendwie was zu sagen hat, und einmal bei dem über 400 Jahre später lebenden Historiker und Geographen Strabo.3

Bei beiden spielt die Geschichte in Ägypten. Sie ist aber auf Griechisch aufgeschrieben und spielt auch in einem griechischen Kulturkreis. Die Protagonistin hat aber nicht nur einen griechischen Namen, sondern auch einen speziell mit der griechischen Kultur verbundenen Beruf. Es handelt sich also um eine griechische Geschichte, die eben in Ägypten spielt. In der ägyptischen Erzähltradition lässt sich keine ähnliche Geschichte belegen.

Das nicht ganz so arme und nicht ganz so fromme Mädchen

Bei Herodot und Strabo geht die Geschichte so: Die kleinste der drei Pyramiden von Gizeh (die Mykerinos-Pyramide) soll zu Ehren einer Frau namens Rhodopis gebaut worden sein. Diese wurde in Thrakien geboren und kam als Sklavin nach Ägypten. Natürlich war sie wie alle Frauen im Märchen wunderschön und so kaufte ein reicher Mann (Sapphos Bruder um genau zu sein) sie frei.

Die Mykerinos-Pyramide auf dem Gizeh-Plateau. Laut griechischer Legenden für die Hetäre Rhodopis gebaut.
Die Mykerinos-Pyramide auf dem Gizeh-Plateau. Laut griechischer Legenden für die Hetäre Rhodopis gebaut. (Foto: Przemyslaw „Blueshade“ Idzkiewicz, 2004, CC BY-SA 2.5)

Rhodopis wusste ihre Schönheit aber durchaus zu Geld zu machen. Denn sie wurde Hetäre, also eine Unterhaltungskünstlerin mit gewissen Sonderleistungen. An der Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass eine Hetäre nicht einfach nur eine Prostituierte ist. Sex für Geld spielt in diesem Beruf natürlich eine entscheidende Rolle, aber Hetären sind in der Regel auch ausgebildete Musikerinnen, Tänzerinnen und hoch gebildet, damit sie die anwesenden Männer auch im Gespräch unterhalten können. Vor allem sind sie aber auch sozial angesehen.

Dieser Hetäre Rhodopis soll nach ihrem Tod von ihren zahlreichen Liebhabern die Mykerinos-Pyramide gebaut worden sein. Also ja, da müssen ein paar zusammen gekommen sein. Herodot, der uns diese Geschichte erzählt, hält sie übrigens für unwahr und das ist sie natürlich auch. Zu Herodots Lebzeiten standen die Pyramiden von Gizeh aber auch schon gut 2000 Jahre und dass dort über die Zeit eine gewisse Legendenbildung eingesetzt hat, ist verständlich.

Die verlorene Sandale

Man kann sich jetzt zurecht fragen, wo da die Aschenputtel-Geschichte ist. Das ist der Teil, den uns Strabo überliefert. Denn eines Tages soll Rhodopis baden gegangen sein. So etwas machte man in der Antike auch öfter mal im Freien. Während Rhodopis also badete, sollte eine Dienerin ihre Kleidung bewachen. Doch vom Himmel kam ein Adler, stahl eine der Sandalen der Herrin und trug sie zum König nach Memphis.

Rhodopis und Äsop
Rhodopis und Äsop, Gravur von Francesco Bartolozzi 1782 (gemeinfrei)

Dieser saß gerade im Freien und hielt Gericht. Der Adler ließ ihm den Schuh in den Schoß fallen. Das nahm der König einerseits als göttliches Zeichen, andererseits war er auch von der Form der Sandale so fasziniert, weil er sich ausmalte, wie schön die Füße sein mussten, die in diesen Schuh passten. (Männer und ihre seltsamen Fußfetische…)

Er ließ also im ganzen Land nach der Besitzerin suchen und fand schließlich Rhodopis in der Stadt Naukratis, die auch das entsprechende Gegenstück besaß und damit zweifelsfrei die Eigentümerin der Sandale war. Die Gesandten des Königs brachten sie also zu ihm und der König verliebte sich sofort in die schöne Frau und heiratete sie. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Haben die Griechen wirklich alles erfunden?

Bei dieser Geschichte kann man sich jetzt zurecht fragen, ob sie die Vorläuferin der neuzeitlichen Aschenputtel-Erzählungen ist. Also der Teil mit dem verlorenen Schuh und dem König, der überall im Land nach der Besitzerin suchen lässt und sie schließlich heiratet, hat schon deutliche Gemeinsamkeiten mit Aschenputtel.

Bei anderen Elementen kann man sich zumindest logisch erklären, warum sie später nicht mehr auftauchen. Eine Hetäre als Protagonistin der Geschichte hat die neuzeitliche, europäische Literatur dann vielleicht einfach zu stark herausgefordert, besonders wenn es um eine Erzählung für Kinder ging. Auf den Tag, an dem es eine Disney-Prinzessin gibt, die für Geld mit Männern schläft, können wir wohl noch länger warten.

Auf der anderen Seite fehlen der griechischen Rhodopis-Geschichte aber auch zentrale Elemente des Aschenputtel-Märchens: die verstorbene Mutter, die gehässigen Stiefschwestern, die Aschenputtel völlig unnötig das Leben schwer machen, der Ball, auf dem Aschenputtel alle mit ihrer Schönheit beeindruckt, überhaupt Aschenputtels langes Leiden, bevor sie den Prinzen trifft und die Moral von der Geschicht’, dass am Ende das Gute, das reine Herz, immer belohnt wird.

Aschenputtel in der Neuzeit

Man kann an der Stelle also deutlich sagen, dass die neuzeitliche, europäische Erzähltradition hier durchaus ihre eigenen Gedanken eingebracht hat, dass es sich um eine eigenständige, literarische Leistung handelt und hier nicht einfach nur eine antike griechische Geschichte abgeschrieben oder umgedichtet wurde. Dafür sind die Unterschiede dann doch zu gravierend. Perrault oder die Gebrüder Grimm auch weiterhin als Autoren jeweils einer Aschenputtel-Geschichte anzusehen, ist also durchaus berechtigt.

Auf der anderen Seite ist die Aschenputtel-Geschichte aber auch nicht vom Himmel gefallen bzw. von den jeweiligen neuzeitlichen Autoren komplett neu konzipiert worden. Sie alle beziehen sich ja darauf, dass es mündliche Erzähltraditionen in Europa bereits gegeben habe, die sie selbst zu einer Geschichte gemacht haben.

Wo diese mündlichen Erzähltraditionen herkamen, ist für uns heute nicht mehr auszumachen. Es gibt ähnliche Geschichten aus dem 9. Jahrhundert in China und aus dem 12. Jahrhundert in Persien. Herodot und Strabo kannte man in Europa aber noch bzw. wieder, als die neuzeitlichen Aschenputtel-Geschichten aufkamen. Es ist also möglich, dass wenigstens die Episode mit dem verlorenen Schuh tatsächlich aus der Antike stammt.

  1. Gebrüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Band 1, Kommentar zu KHM 21, Aschenputtel.
  2. Herodot, Historien II, 134 – 135
  3. Strabo, Geographika, XVII, 33

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